Eine weltweite Kollaboration von Wissenschaftlern unter Beteiligung eines Forscherteams der Schmerzklinik Kiel hat vier neue Genorte entschlüsselt, deren Veränderungen das Migränerisiko signifikant erhöhen. Die aktuellen Entdeckungen liefern wichtige neue Erkenntnisse zur Entstehung der häufigsten Formen der Migräne. In der weltweit größten Migränestudie wurden die Gene von über 5000 Migränepatienten untersucht und diese mit 7000 Kontrollpersonen verglichen. Die Ergebnisse werden in der aktuellen Ausgabe von Nature Genetics am 10. Juni 2012 veröffentlicht.
Die Forscher untersuchten die genetischen Merkmale von mehr als 11 000 Menschen. Insgesamt fanden sie sechs Gene, die das Risiko für das Auftreten der häufigsten Migräneform, die Migräne ohne Aura, erhöhen. Vier dieser Gene waren bisher unbekannt und sind neue Entdeckungen. Bei zwei weiteren wurden frühere Befunde bestätigt.
Die neu gefundenen Ergebnisse belegen die bisherigen Annahmen, dass eine Störung der Signalübertragung in Nervenzellen des Gehirns für die Entstehung der Migräne bedeutsam ist. Wenn man weiß, welche Funktionen die Gene steuern, kann man die Behandlung direkt auf diese Mechanismen ausrichten. Zwei der Gene sind für die Funktion von Arterien und Venen im Gehirn relevant. Die Befunde unterstützen die Hypothese, dass Veränderung der Blutversorgung und eine Störung der Übertragung von Nerveninformationen in der Entstehung der Migräne eine wichtige Rolle einnehmen.
Die jetzige Veröffentlichung ist die dritte Publikation in Nature Genetics des gleichen Konsortiums zur Genetik der zwei häufigsten Formen der Migräne. Insgesamt wurden von den Forschern nun sieben neue Migräne-Gene entschlüsselt: Eine DNA-Variante bei Migräne-Patienten mit Aura, die zwischen den Genen PGCP und MTDH/AEG-1 lokalisiert ist; PRDM16, TRPM8 und LRP1 sind generelle Migräne-Gene. Aktuell konnten nun zudem auch die Gene MEF2D, TGFBR2, PHACTR1, und ASTN2 entschlüsselt werden, deren Varianten mit Migräne ohne Aura assoziiert sind. In der neuen Studie wurde zusätzlich auch die Verbindung von TRPM8 und LRP1 mit einem erhöhten Migränerisiko bestätigt.
Auch wenn das individuelle Ausmaß jedes einzelnen Gens für die Entstehung des Migränerisikos relativ klein ist, liefert die Identifizierung der genetischen Varianten wichtige Erkenntnisse über die molekularen Mechanismen, die zur Entstehung der Migräne beitragen. Zusammen mit früheren molekularbiologischen Forschungsergebnissen bei seltenen familiär bedingten Migräneformen, weisen die neu entdeckten Gene darauf hin, dass sowohl spezielle Störungen der Blutgefäße, als auch eine Übererregbarkeit des zentralen Nervensystems aufgrund verstärkter Aktivität des Nervenbotenstoffes Glutamat, zum Entstehungsprozess der Migräne beitragen.
„Studien dieser Art sind nur mittels aufwändiger, komplex angelegter und internationaler Kooperation umzusetzen. Diese bringt die erforderliche große Datenmenge, das notwendige Expertenwissen, sowie die erforderlichen Ressourcen zusammen. Die neu identifizierten Gene stoßen neue Türen für das Verständnis auf, wie die Volkskrankheit Migräne entsteht” äußerten Dr. Arn van den Maagdenberg, Mitglied des internationalen Kopfschmerz und Genetik Konsortiums, sowie einer der Senior-Autoren der Veröffentlichung, gemeinsam mit Dr. Martin Dichgans und Dr. Aarno Palotie.
„Migräne ist eine der am schwersten behindernden Volkskrankheiten. Die neuen Daten belegen wichtige neurobiologische Mechanismen bei der Entstehung. Sie helfen zu erklären, warum bei den Betroffenen das Migränerisiko im Vergleich zu Gesunden erhöht ist. Die Entdeckungen verbessern zudem die Möglichkeit, gezielter zur Behandlung in die Entstehung der Migräne einzugreifen“ sagte Prof. Dr. Hartmut Göbel vom Migräne- und Kopfschmerzzentrum der Schmerzklinik Kiel, Mitglied des internationalen Kopfschmerz- und Genetik-Konsortiums und Co-Autor der Studie. Zur Erarbeitung der Daten wurden über mehrere Jahre klinische Daten und Blutproben von betroffenen Patientinnen und Patienten sowie deren Familienmitgliedern gesammelt, analysiert und klassifiziert. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Christian Kubisch von der Universität Köln/Ulm wurde im Rahmen der internationalen Kooperation gemeinsam mit Forschern u. a. des Wellcome Trust Sanger Institutes (Cambridge), der Ludwig-Maximilians-Universität München und des Leiden University Medical Center die Identifizierung der genetischen Risikofaktoren für Migräne ermöglicht.
Um die genetischen Varianten zu entschlüsseln, die das Migränerisiko erhöhen, nutzten die Wissenschaftler eine genomweite Assoziationsstudie (GWAS). Verglichen wurde zunächst das Genom von 2000 Migräne-Patienten aus den Niederlanden und Deutschland mit dem von über 4000 gesunden Probanden. Anschließend konnte ermittelt werden, ob bestimmte genetische Varianten in einer der beiden Gruppen häufiger auftreten und folglich das Migränerisiko signifikant entweder erhöhen oder erniedrigen. Um die Ergebnisse zu bestätigen, untersuchte die Forschergruppe zusätzlich das Genom einer weiteren Gruppe, bestehend aus über 2500 Patienten und 2500 gesunden Probanden aus Finnland, Spanien, den Niederlanden und Norwegen.
Die statistische Analyse, die die Datensätze aus beiden Untersuchungen kombinierte, entschlüsselte insgesamt sechs DNA-Varianten auf den Chromosomen 1, 2, 3, 6, 9 und 12, die mit einem erhöhten Risiko an Migräne ohne Aura zu erkranken, verbunden sind. Interessanterweise konnte für die Gen-Variante auf dem Chromosom 8, die durch dieselbe Forschungsgruppe bereits mit Migräne mit Aura in Verbindung gebracht wurde, keine Assoziation für Migräne ohne Aura festgestellt werden. Dies deutet darauf hin, dass den beiden Migräne-Formen unterschiedliche Entstehungsmechanismen zugrunde liegen.
Die Studie wurde durch das Internationale Kopfschmerz- und Genetik-Konsortium, einer naturwissenschaftlichen Kollaboration von mehr als 40 weltweiten klinischen und genetischen Forschungszentren, durchgeführt.
Details der Publikation
Teilnehmende Zentren
Eine vollständige Liste der teilnehmenden Zentren findet sich auf der Homepage von Nature Genetics