Vielfalt in der Bildung: Invest in Future 2012 zeigt neue Wege

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Invest in Future 2012

Kita-Fachpersonal fehlt, gleichzeitig müssen Kommunen dringend neue Betreuungsplätze schaffen, um den Rechtsanspruch zu erfüllen. „Qualitätsstandards in der Frühpädagogik werden dabei schrittweise unterlaufen“, warnte Professor Stefan Sell auf dem Bildungs- und Betreuungskongress „Invest in Future“ Ende Oktober 2012 in Stuttgart. Fachleute aus Pädagogik, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik nutzten das Fachforum, um sich über die Chancen und Herausforderungen auszutauschen, die sich für das Betreuungs- und Bildungssystem in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft ergeben.

Stuttgart – Unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Wilfried Kretschmann fand jetzt zum neunten Mal der zweitägige Kongress Invest in Future statt. Rund 450 Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen aus dem ganzen Bundesgebiet sowie dem benachbarten Ausland nach Stuttgart. Unter dem Kongressmotto „Vielfalt – Möglichkeiten erkennen, Herausforderungen meistern!“ hatten die Veranstalterinnen, die Konzept-e für Bildung und Betreuung gGmbH sowie die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH (WRS), 24 Themenforen mit insgesamt 78 Vorträge und 15 Diskussionsrunden zusammengestellt.

„Qualität darf dem Ausbau der Betreuungsplätze nicht geopfert werden“
Stefan Sell, Professor an der Hochschule Koblenz, beleuchtete das Thema aus politscher und wirtschaftlicher Sicht. „Angesichts des Fachkräftemangels in Kindertagesstätten und dem gleichzeitig nötigen Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige ist es absehbar, dass sämtliche Qualitätsstandards für die Kinderbetreuung „geflutet“ werden“, sagte der Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften. Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahlen, sei es sehr unwahrscheinlich, dass der ab Mitte 2013 bestehende Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab einem Jahr zurückgenommen werde. Kommunen müssten eine Klagewelle von Eltern befürchten, denn der nötige Ausbau sei vielerorts nicht mehr zu leisten. „Unter diesem Druck werden unsere Einrichtungen, die den Auftrag haben zu bilden, zu betreuen und zu erziehen, zu reinen Betreuungsinstitutionen verkommen“, prognostizierte Sell. „Ich fordere besonders die Kita-Träger auf, sich einem Ausbau zu verweigern, der auf Kosten der Qualität geht.“

Wie viel Vielfalt verträgt ein Kita-Team?
Eine Möglichkeit der Fachkräfteknappheit zu begegnen, könnte darin liegen, Fachfremde in Kitas zu beschäftigten. Pädagogisch wäre eine zunehmende Vielfalt in Kita-Teams durchaus sinnvoll. Menschen unterschiedlichen Geschlechts und Alters, mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, Biografien, Kenntnissen und Fähigkeiten, gäben Kindern vielfältigere Anregungen und Möglichkeiten für Nachahmung. So weit reicht der Konsens. Doch darf die Vielfalt so weit gehen, dass auch Menschen ohne formale pädagogische Ausbildung in Bildungseinrichtungen arbeiten? Darüber diskutierten Referentinnen und Referenten sowie Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehr kontrovers. Tina Friederich von der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte am Deutschen Jugendinstitut e.V. (DJI) in München bemängelte zwar, dass der Transfer theoretischen Wissens aus der Ausbildung in die Praxis derzeit nicht gut funktioniere und mahnte eine bessere Verzahnung der Bereiche an. Bei einem Teil des Kita-Teams auf eine pädagogische Ausbildung zu verzichten, konnte sie sich indes nicht vorstellen. Sie befürchtete nicht hinnehmbare Qualitätseinbußen.

Clemens M. Weegmann aus dem pädagogischen Leitungskreis der Konzept-e für Bildung und Betreuung gGmbH berichtete dagegen von guten Erfahrungen mit der Beschäftigung fachfremder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: „Rund zehn Prozent Spezialistinnen und Spezialisten mit anderen Qualifikation sind in einem ansonsten fachlich gut qualifizierte Kita-Team kein Problem.“ Um für diese Personen einen Personalkostenzuschuss von der Kommune zu bekommen, seien jedoch im Einzelfall Verhandlungen nötig, die nicht immer im Sinne des Trägers ausgingen. Unter anderem aus diesem Grund plane Konzept-e daher ab September 2013 eine berufsbegleitende Qualifizierung solcher Kräfte zu Kinderpflegerinnen und Kinderpflegern. Weitere interessierte Träger könnten sich an diesem Ausbildungsmodell beteiligen.

Professor Sell, an dessen Hochschule in Koblenz frühpädagogische Fachkräfte ausgebildet werden, zeigte sich in Bezug auf den Einsatz fachfremder Personen in Kitas pragmatisch: Qualität ließe sich nicht durch Hochschulabschlüsse gewährleisten. Maßgeblich für die Qualität der Arbeit seien die persönliche Eignung und die Fähigkeit zu pädagogisch sinnvollem Handeln in der Praxis. Die Träger seien aufgerufen, gemeinsame Standards und Wege zu definieren, um diese praktische Eignung festzustellen. Denn angesichts des offensichtlichen Fachkräftemangels in der Branche, werde eine Öffnung des Berufs auf jeden Fall kommen.

Neue Organisationsformen und Handlungsstrategien
„Vielfalt im Bildungssystem hat verschiedene Dimensionen“, sagte Dr. Frank Mentrup, Staatsekretär im Kultusministerium Baden-Württemberg. „Es geht um eine zunehmende Vielfalt der Kinder sowie ihrer Familien- und Alltagserfahrungen. Dazu kommt die Vielfalt der Persönlichkeiten in den pädagogischen Teams, die sie betreuen und auf ihren Bildungswegen begleiten. Außerdem nimmt die Vielfalt der elterlichen Lebensmodelle und ihrer Wünsche an das Betreuungs- und Bildungssystem zu.“ Hinzu kommt die Vielfalt der Kooperationspartnerinnen und -partner einer Bildungseinrichtung im sozialen Umfeld. „Vielfalt kann bereichern und erfolgreich machen. Um diese Chancen zu nutzen, brauchen wir einen Paradigmenwechsel im Denken, neue Organisationsformen und Handlungsstrategien“, erklärte Frank Mentrup.

„Wir können gar nicht verhindern, ununterbrochen zu lernen“
So charakterisierte Bernd Hackl, Professor an der Universität Graz, in seinem Vortrag eine der wichtigsten Tätigkeiten unseres Lebens. Es käme aber darauf an, was und vor allem wie man lerne. Viele weit verbreitete Annahmen über die Art, wie Menschen effektiv lernen könnten, träfen nicht zu: „Lernen ist viel weniger rational motiviert, bewusst gesteuert und individuell zu bewältigen, als wir annehmen“, sagte der Experte. Dennoch lässt es sich planmäßig kultivieren. „Dazu bedarf es einer Atmosphäre der Muße und Anregung, einer aktiven Kooperation mit Menschen und Dingen, eines konsequenten Vorzeigens und Nachmachens von Wissen, Strategien und Haltungen und einer ausdrücklichen Wertschätzung des Fehlermachens“, erläuterte er. Effektives Lernen sei weniger ein Ergebnis gezielter Disziplinierung unter Leistungsdruck als vielmehr ein Nebenprodukt einer faszinierten und engagierten Beschäftigung mit der Welt.

Wie die konkrete pädagogische Umsetzung dieser Erkenntnisse aussehen kann, machte Peter Fratton am Beispiel der Freien Schule Anna-Sophie im baden-württembergischen Künzelsau deutlich. Die Lernbegleiterinnen und Lernbegleiter – so heißen die Lehrerinnen und Lehrer an dieser Schule – halten sich an Leitsätze, die ungewöhnlich anmuten. „Sie sollen den Schülerinnen und Schülern nichts beibringen, nichts erklären, sie nicht erziehen und nicht motivieren“, berichtete Peter Fratton, der das pädagogische Konzept der Einrichtung erarbeitete. „Stattdessen geht es darum, die Kinder teilhaben zu lassen, ihnen Zeit zu geben Dinge selber zu erfahren, sie zu begleiten und die eigene Motivation und Begeisterung wach zu halten, um sie den Kindern vorzuleben.“ Das derzeitige Schulsystem sei für fiktive Durchschnittsschülerinnen und -schüler ausgelegt, die in allen Kompetenzfeldern einheitliche Leistungen aufwiesen. „Statt des bekannten auf der Idee der Gleichheit der Lernenden basierenden Schulunterrichts gibt es bei uns die sieben V-Begleitung“, sagte Peter Fratton. „Das heißt: Vielfältige Wege von vielfältigen Menschen an vielfältigen Ort und zu vielfältigen Zeiten, mit vielfältigen Ideen und Rhythmen führen zu gemeinsamen Zielen.“ Besonders wichtig, damit ein solches Schulleben klappe, sei es, sich auf Grundregeln zu verständigen und diese konsequent einzuhalten.

Das Konzept von Peter Fratton inspirierte das Land Baden-Württembergisch bei der Entwicklung einer neuen Schulform: der Gemeinschaftsschule. Knut Becker von der Stabstelle Gemeinschaftsschulen, Schulmodelle, Inklusion des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport berichtete, dass 42 Schulen im Land jetzt als Gemeinschaftsschule ausgewiesen seien. Weitere 120 hätten sich mit eigenen pädagogischen Konzepten um diesen Status beworben. „Gemeinschaftsschulen ermöglichen es den Kindern, in ihrem eigenen Tempo zu lernen, sich zu entwickeln und den individuell besten Abschluss zu erreichen“, betonte Knut Becker. Gleichzeitig trage diese Schulform den sinkenden Schülerzahlen in ländlichen Kommunen Rechnung, die auf diese Weise weiterhin allen Kindern eine Schule vor Ort anbieten könnten.

Vielfältige Bildungsräume ausgezeichnet
Der Aspekt der Vielfalt sollte sich in Bildungseinrichtungen idealerweise auch in der Gestaltung der Räume niederschlagen. „Eine vielfältige, vorbereitete Umgebung mit spannenden Materialien gibt Kindern wichtige Impulse für ihr Lernen“, betonte Silke Schönrade vom P.I.T. Institut in Bonn in ihrer Einführungsrede zu den Präsentationen der Preisträgerinnen und Preisträger der diesjährigen Invest in Future Awards, die zeigten, was dies in der Praxis heißt. Während der Abendveranstaltung in den barocken Räumen des Stuttgarter Neuen Schlosses nahmen die Kindertagesstätte „Am See“ in Großbettlingen bei Nürtingen, der Naturkindergarten Kokopelli in Hamburg sowie die Kindertagesstätte „Zum Aubachtal“ in Neuwied die ersten drei Preise entgegen. Die Montessori-Grundschule Linzgau in Pfullendorf erhielt einen Sonderpreis.

Link: www.invest-in-future.de

Foto: Konzept-e / Perper

Das Konzept-e Netzwerk ist seit seiner Gründung 1988 kompetenter Partner für Kommunen und Unternehmen in Bildungs- und Sozialfragen. Der Aufbau und Betrieb öffentlicher und betriebsnaher Kindertagesstätten mit hohem Qualitäts- und Bildungsstandard sowie deren Organisationsentwicklung sind die wichtigsten Geschäftsfelder. Heute gehören zum Netzwerk 25 Kitas, zwei Grundschulen, zwei Freie Duale Fachschulen für Erzieherinnen und Erzieher sowie die Entwicklung von Konzepten zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Der Anspruch einer qualitativ hochwertigen Bildung und Betreuung ist in der eigenen element-i-Pädagogik formuliert. Um diese Bildung und Betreuung allen Kindern zu ermöglichen, wurde 2011 die element-i-Bildungsstiftung ins Leben gerufen.

Das Konzept-e Netzwerk beschäftigt bundesweit 480 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Zu ihm gehören die Trägervereine Kind e.V. Stuttgart, Kind und Beruf e.V., Konzept-e für Kindertagesstätten gGmbH und die Konzept-e für Schulen gGmbH

Das Konzept-e Netzwerk veranstaltet jährlich den Kongress Invest in Future, der die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die zeitgemäße Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern von 0 bis 10 Jahren in den Fokus nimmt. Er findet das nächste Mal am 22. und 23. Oktober 2012 in Stuttgart statt.

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