Mit sozialer Fantasie das Alter meistern

Deutschlands Kommunen sind in besonderer Weise von den Folgen des demografischen Wandels betroffen, denn sie müssen bereitstellen, was alte Menschen in ihrem Alltag brauchen. Die Stadt Willich am Niederrhein hat den hohen Anspruch, jedem alten Menschen ganz individuell gerecht zu werden – und geht innovative Wege, um dieses Ziel zu erreichen. Dabei sind nicht nur Spezialisten, sondern die ganze Stadtgemeinschaft gefragt.

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Deutschlands Städte stehen vor gewaltigen Herausforderungen: Große Investitionen in die Altenbetreuung, in Freizeiteinrichtungen, ins Verkehrssystem und den Wohnungsbau sind erforderlich.

Regine Hofmeister und ihre Kollegen suchen heute schon nach Lösungen für die Probleme von Morgen. Was sie mit ihrer Arbeit als Seniorenberater für die Stadt Willich leisten, ist wegweisend für die Gesellschaft der Zukunft, in der ältere Menschen in der Mehrheit sind. Denn Hofmeister und ihre Kollegen vom kommunalen Pflegestützpunkt bieten zwar ganz klassisch soziale Hilfen und Pflegeberatung an – aber sie verstehen sich auch als Kultur- und Eventplaner und organisieren Bildungsangebote.Vor allem aber bauen sie soziale Netzwerke quer durch alles Generationen und Berufsgruppen. Auf den Punkt gebracht: Sie verstehen sich als Managerinnen des demografischen Wandels.

Fest steht, dass sich die Bevölkerungsstruktur dramatisch wandelt. In einigen Jahren werden 40 Prozent der Menschen nicht mehr im Beruf sein – und deshalb entsprechende Sozialleistungen und Unterstützung benötigen, sagt Prof. Oscar Gabriel, Politik- und Sozialwissenschaftler an der Universität Stuttgart. Das Problem: „Die Infrastruktur der Kommunen ist auf die traditionelle Bevölkerungsverteilung angepasst“, so Gabriel. Deshalb stehen Deutschlands Städte vor gewaltigen Herausforderungen: Große Investitionen in die Altenbetreuung, in Freizeiteinrichtungen, ins Verkehrssystem und den Wohnungsbau sind erforderlich. „Wir stehen vor einem enormen Umbruch“, lautet Gabriels Prognose.

In der Seniorenberatungsstelle der Stadt Willich hat dieser Umbruch schon begonnen. „Wir betrachten den demografischen Wandel als Ganzes“, sagt Hofmeister. Das heißt einerseits, in Einzelfällen passgenaue Lösungen zu finden: Was genau benötigt die 86-jährige Dame mit Anzeichen von Demenz, die bisher von ihrem 48-jährigen Sohn gepflegt wurde? Das Team um Hofmeister erarbeitet einen individuellen Hilfeplan, der die Eigenständigkeit der Frau möglichst erhält und ihre Familie entlastet. Ein Baustein in diesem Fall ist eine Tagespflegestätte, so dass die Frau abends nach Hause gehen kann. Ihre Kinder und Enkel können sie jederzeit besuchen, ein Pflegedienst bringt sie ins Bett. Sie bekommt nicht mehr und nicht weniger Hilfe, als sie braucht.
Neben der Einzelfallhilfe hat der Aufbau von Netzwerken in der Stadt Willich einen hohen Stellenwert. Um eine pflegebedürftige Frau in ihrem Alltag zu unterstützen, organisieren die Berater vom kommunalen Pflegestüzpunkt, in den die Seniorenberatung integriert ist, einen Kreis von Ehrenamtlichen – ein wichtiges Element der gemeinwesenorientierten Arbeit. Bald gibt es mehr Leistungsempfänger als Leistungsgeber – deshalb ist ehrenamtliches Engagement auch eine Antwort auf die Ressourcenfrage, so Oscar Gabriel. „Es geht um solidarisches Verhalten“, sagt er. „Da ist nicht nur öffentliche Investition gefragt, sondern soziale Fantasie.“ Ihm schwebt ein Modell vor, in dem Leistungen über Punktekonten ausgetauscht werden.

In Willich gibt es auch ohne solche Tauschbörsen viele Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren. Das funktioniert, weil es auf Wechselseitigkeit beruht: junge Menschen treffen sich mit Älteren, um ihnen Gesellschaft zu leisten oder für sie einzukaufen. Aber auch rüstige Senioren haben sehr viel Wertvolles zu geben: Sie unterstützen Kinder bei den Hausaufgaben oder helfen als Babysitter aus. Ein Nebeneffekt: „Den Leuten tut es gut, weil sie ihre Zeit nicht als unnütz empfinden“, sagt Gabriel.
So ergänzen sich die Altersgruppen. Dennoch wird es weiterhin belastend sein, hochbetagte, kranke Angehörige zu pflegen – aber diese Last wird leichter, wenn eine Gesellschaft sie gemeinsam trägt. Was für die sozialen Strukturen einer Stadt gilt, lässt sich übertragen auf Mobilität, Verkehr und Wohnungsbau: ältere Menschen haben oft besondere Bedürfnisse. Doch einen ebenerdigen Zugang zur Dusche beispielsweise wissen Eltern mit kleinen Kindern genauso zu schätzen wie Senioren.

Nach einigen Monaten Zeit als Seniorenberaterinreifte in Regine Hofmeister zunehmend eine Erkenntnis: Fragen des Alters greifen in alle Lebensbereiche und lassen sich nie isoliert voneinander betrachten. „Wir haben in Willich schon seit längerem fortschrittlich gedacht. Deshalb habe ich eine moderne, zukunftsorientierte Weiterbildung gesucht“, sagt sie. Nach langer Suche wurde sie schließlich fündigin dem Master-Studiengang „Integrierte Gerontologie“ der Universität Stuttgart, dem eine ganzheitliche, lösungsorientierte Sichtweise auf den demografischen Wandel zu Grunde liegt. Gesundheits- und Sozialwissenschaften sind hier eng verzahnt mit Produktdesign, Architektur oder auch Ingenieurswissenschaften. Durch den Online-Studiengang eignet sich Hofmeister parallel zum Beruf das theoretische und methodische Rüstzeug für ihre Arbeit an. „Vieles konnte ich davon schon praktisch umsetzen“, sagt sie.

Die 45-jährige sieht ihre Aufgabe darin, „Konzepte zu Gunsten der Bürger unserer Stadt für die Zukunft zu entwerfen“. Ihre in der Praxis erprobten Konzepte der Integrierten Gerontologie will sie weiter bekannt machen – etwa durch intensiven Austausch mit anderen Kommunen. Aber auch überregional stoßen ihre Erfahrungen auf Interesse. Erst kürzlich hat sie in einem Vortrag an der Universität Köln über ihre innovativen Ansätze in der Seniorenarbeit gesprochen. Die Zuhörer waren sehr angetan.
Oscar Gabriel, der als Dozent im Masterstudiengang unterrichtet, sieht den demografischen Wandel als „eine der größten Herausforderungen, vor der wir in Deutschland stehen“. Ein interdisziplinärer, integrierter Ansatz ist für ihn deshalb unabdingbar, um die „tiefgreifende Umgestaltung der öffentlichen Infrastruktur“ zu bewältigen. Regine Hofmeister arbeitet Tag für Tag an dieser Umgestaltung – mit viel Freude, denn „die Chancen sind größer als die Probleme“.

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Der Studiengang Integrierte Gerontologie an der Universität Stuttgart verbindet gerontologische Fragestellungen mit ingenieur-, sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Inhalten und macht Sie zu Änderungsmanagern/innen des demographischen Wandels. Werden Sie auf der Basis Ihres Studiums der Architektur, Ingenieur-, Sozial-, oder Sportwissenschaften, im Gesundheitswesen oder der Verwaltung zu Experten/innen fu?r Fragen des gelingenden Alterns und Alters. Mit dem erworbenen interdisziplinären Wissen aus der Altersforschung können Sie fundierte Konzepte in einem enorm wachsenden und zukunftsweisenden Berufsfeld entwickeln.

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Katrin Nachbar
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