Lob des Lassens

Chronische Erschöpfung als Resultat unserer „Yes we can“-Gesellschaft

+++ von Ansgar Lange +++ Sindelfingen, Oktober 2011 – Burnout ist zu einem Massenphänomen unserer Zeit geworden. Immer mehr Menschen scheinen an einem akuten Erschöpfungssyndrom zu leiden. Der ausgebrannte Fußballtrainer Ralf Rangnick hat zuletzt eine große mediale Welle in Bewegung gesetzt, als er sagte, dass er dem FC Schalke 04 nicht weiter in seiner bisherigen Funktion dienen könne. Wenn Prominente unter einem Burnout leiden oder sich in der Öffentlichkeit zu dieser Krankheit bekennen, stürzen sich sofort Zeitungen, Magazine und Fernsehsender auf das Thema. Doch spätestens zwei Wochen später wird wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Otto Normalverbraucher bleibt dann wieder mit seinem Problem allein, weil unsere Leistungsgesellschaft ständige Erreichbarkeit, Flexibilität und Anpassungsbereitschaft an ökonomische Zwänge erfordert. Der Bankangestellte, die Frau an der Supermarkttheke und der gestresste Lehrer sind eben nicht so prominent wie besagter Fußballlehrer oder die Publizistin Miriam Meckel, die ihre Krankheit zugleich wieder verwertet hat, nämlich in dem Buch „Brief an mein Leben: Erfahrungen mit einem Burnout“. Permanente Müdigkeit resultiert aus dem Anspruch, alles managen zu können – am besten noch alles gleichzeitig.

Multitaskingfähigkeit steht hoch im Kurs. „So entsteht eine Yes-We-Can-Gesellschaft, die auf ihre Angst mit Affirmation reagiert: Ja, wir können auch um Mitternacht E-Mails beantworten. Ja, wir können auch auf dem Spielplatz noch Börsenkurse checken. Ja, wir können auch im Urlaub ans Telefon gehen. Könnte ja etwas Dringendes sein. Der fatalistische Refrain dieses Weltbildes lautet: So ist eben das Geschäft“, schreibt Zeit-Online http://www.zeit.de.

Wer vom Burnout betroffen ist, reagiert oft apathisch, wird und wirkt depressiv oder aggressiv und sucht den vermeintlichen Ausweg aus der Arbeitssucht oft in anderen Süchten wie Alkohol oder Drogen. Nach Schätzungen arbeitet in Deutschland bereits jeder zehnte Vollzeitbeschäftigte mehr als 60 Stunden in der Woche. „Wer dann nicht mehr den Ausgleich hinbekommt und – die neudeutsch gesprochen – Work-Life-Balance hält, gerät an den Rand unserer Gesellschaft. Denn eine häufige Folge des Burnouts ist der Verlust sozialer Kontakte, weil einem alles zu viel wird, man den Stress einfach nicht mehr bewältigen kann. Dabei sind gerade der Kontakt zu Freunden und echte, nicht nur virtuelle Bindungen die Voraussetzung für die eigene seelische Stabilität. Wer sich zu sehr unter Leistungsdruck setzt und an dem eigenen Perfektionismus im wahrsten Sinne des Wortes erstickt, der verliert schnell im Beruf wie im Privaten den Boden unter den Füßen“, sagt der Personalberater Michael Zondler, Geschäftsführer bei Centomo http://www.centomo.de in Sindelfingen.

Schlichte Ratgeberbücher helfen in einer solchen Situation meist nicht weiter, meint Zondler, denn sie zielten zu oft auf den Mensch als Maschine ab, als Rädchen im großen Getriebe, das funktionieren müsse. Wenn man ernsthaft an einem Burnout erkrankt sei, helfe nur noch schonungslose Offenheit. „Die Erkenntnis, dass es so nicht weiter geht und man sich aus eigener Kraft nicht mehr aus dem Sumpf befreien kann, ist eine wichtige Voraussetzung für die Heilung. Ralf Rangnick hat vorgemacht, wie man mit diesem Phänomen umgehen sollte – dezent, aber trotzdem offen und mutig. Man muss das Problem als solches zunächst genau erkennen und darf sich nichts vormachen. Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn man gegenüber dem eigenen Chef und Freunden zugibt, dass man eine Auszeit braucht, wenn man sich nicht in einem Hamsterrad verfangen will. Denn der Burnout wird dann zu einer Endlosschleife. Die eigene Lebenszufriedenheit, das persönliche Glück und auch der berufliche Erfolg und die Zufriedenheit im Job bleiben schnell auf der Strecke. Hilfe von außen, Gespräche mit einem Psychologen und medizinische Betreuung sind oft unumgänglich“, sagt Personalexperte Zondler.

Denjenigen, die einen leichten Überdruss an ihrem Leben verspüren und die Weichen neu stellen wollen, empfiehlt Zondler die Lektüre des Buches „Wir Genussarbeiter. Über Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft“ der Philosophin und Autorin Svenja Flaßpöhler http://flasspoehler.com. „Die Botschaft ihres amüsant und leicht zu lesenden Buches ist so klar wie befreiend: Wir sollten wieder mehr lassen als tun. Doch der Akt der Befreiung ist schwierig, gilt doch die Arbeitssucht neben der Sportsucht als die einzige gesellschaftlich anerkannte, ja sogar geforderte und geförderte Sucht. Während man die Drogenabhängigen, Alkoholiker und Kettenraucher oft an den Rand der Gesellschaft schiebt, lenken die Arbeitssüchtigen sogar weltweit operierende Unternehmen oder ganze Staaten“, so Zondler.

Angesichts dieser Arbeitsüberlastung fällt uns das Genießen zusehends schwerer. Den Weg zur Freiheit oder zumindest zu etwas mehr Freiheit in unserem Leben umschreibt die Autorin mit folgenden Worten: „Nur wenn wir nicht jede Herausforderung reflexhaft annehmen, nicht jede Möglichkeit zwanghaft nutzen, nur weil es sich um eine Möglichkeit handelt, sind wir wirklich frei. Es ist dies die Freiheit des Auslassens, des Einlassens und Seinlassens, die Freiheit des Nicht(s)tuns, des Ablassens, Gelassenseins und Loslassens. Erst wenn wir bereit sind, der Aktivität die Passivität an die Seite zu stellen, können wir die Gesellschaft, in der wir leben, und auch uns selbst verwandeln. An die Stelle von Entsagung und Exzessivität träte ein Genuss, der uns zum Funkeln bringt.“

Doch auch der Genuss entartet beim modernen Leistungsfetischisten rasch zur Arbeit aus. Dies zeigt sich beispielsweise in unserer schönen Bio-Wellness-Welt in den gehobenen Stadtvierteln. Flaßpöhler macht dies anhand des Werbeslogans „Dinkel macht glücklich“ deutlich. Dinkel ist gesund. Aber schmeckt er auch? „Diese Frage stellt sich die gesundheitsbewusste Genießerin nicht und beißt stattdessen entschlossen in die Dinkelerdbeerschnitte, ein Kuchen, der den Namen Sandkuchen endlich einmal verdient hätte, denn er ist so trocken wie die Sahara und lässt sich nur mit einer Tasse Yogi-Tee herunterbekommen, die praktischerweise am selben Stand verkauft wird“, so die Philosophin, die als freie Autorin für das Magazin Psychologie Heute und das Deutschlandradio tätig ist.

„Druck und Stress hat es in der Arbeitswelt schon immer gegeben. Es gibt ja auch durchaus so etwas wie eine positive Spannung, wenn einem die Arbeit Spaß macht, man spielerischen Ehrgeiz entwickelt und etwas leisten will. Manchem, der heute an einem Burnout-Syndrom leidet, mag vielleicht der eine oder andere vorwerfen, er sei larmoyant, schließlich sei früher länger und zumindest samstags noch gearbeitet worden. Doch unzweifelhaft haben Smartphones für Arbeitnehmer und das Internet gravierende Veränderungen bewirkt. Es gelingt uns aufgrund der täglichen Mailflut immer weniger, vertiefend und damit befriedigend zu arbeiten. Immer bleibt etwas liegen, Mails müssen noch beantwortet werden etc. Nachgerade zwanghaft verausgaben wir uns heute im Netz, sammeln, kommunizieren, saugen auf, „bis sich das Denken vollends verflüchtigt hat in den unendlichen Weiten des Cyberspace“, so Flaßpöhler. Für Zondler geht es darum, eine gesunde Balance zu halten. Konservative Kulturkritik und Technikfeindschaft seien sicher nicht die richtigen Wege aus unserer Burnout-Gesellschaft. Als Chef von Centomo vermittle er beispielsweise viele Freiberufler, die sich gar keine Nine-to-five-Mentalität leisten könnten und in ihren Projekten häufig sehr schnell messbare Leistung bringen müssten: „Diese Menschen können sich gar nicht vorstellen, jeden Tag im gleichen Büro zu sitzen und die immer gleichen Arbeitsabläufe zu organisieren. Sie brauchen Freiheit, sind neugierig auf neue Herausforderung und lieben den Kitzel, wenn sie über einen gewissen Zeitraum stark gefordert sind. Denn auch chronische Langeweile, Unterforderung und die Aussicht, dass sich bis zur Verrentung nichts mehr ändert am Job, können zu Depressionen oder zum Burnout führen.“

Flaßpöhlers kluges Buch endet mit einem sympathischen „Lob des Lassens“. „Wir sind unserem Schicksal nicht zwanghaft ausgeliefert und dazu verdammt, in der täglichen Mailflut zu ertrinken. Unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen sind für weite Teile zumindest der deutschen Bevölkerung so gut wie noch nie. Warum sollten wir unser Dasein daher nicht etwas weniger angestrengt angehen und einfach mal Dinge lassen, die nicht unbedingt erledigt werden müssen. Dieser Ratschlag mag banal klingen, doch er ist richtig“, so Zondler abschließend.

Literaturtipp: Svenja Flaßpöhler: Wir Genussarbeiter. Über Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft. Deutsche Verlags-Anstalt: München 2011. 208 Seiten. 17,99 Euro. ISBN 978-3-421-04462-4.

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