Fachanwalt für Arbeitsrecht Alexander Bredereck und Rechtsanwalt Dr. Attila Fodor, Berlin
In Deutschland hat es ein Arbeitnehmer, der Missstände in einem Unternehmen bei der Polizei zur Anzeige bringt, nicht leicht. Auf der einen Seite hat er doch das Recht, seine Meinung frei zu äußern. Das garantiert ihm das Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Unter Umständen ist er sogar verpflichtet, eine Strafanzeige zu stellen. Andererseits trägt er aufgrund des Arbeitsverhältnisses eine Fürsorgepflicht und Loyalitätspflicht gegenüber dem Arbeitgeber. Das Bundesarbeitsgericht hat für die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Kündigung aufgrund einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber folgende Grundsätze aufgestellt:
1. Ein Arbeitnehmer darf seine Strafanzeige nicht auf wissentlich oder leichtfertig falsche Tatsachen stützen.
2. Auch wenn sich die Tatsachen als richtig herausstellen sollten, darf die Anzeige des Arbeitnehmers keine unverhältnismäßige Reaktion auf das Verhalten des Arbeitgebers sein.
3. Indiz für eine unverhältnismäßige Reaktion ist die (fehlende) Berechtigung der Anzeige, die Motivation des Arbeitgebers und das Fehlen einer vorherigen innerbetrieblichen Anzeige.
4. Die Gründe, die den Arbeitgeber dazu bewogen haben, Anzeige zu erstatten, sind besonders zu gewichten. Wollte der Arbeitnehmer den Arbeitgeber oder die Geschäftsführung „fertig machen“ wollen, ist die Kündigung rechtens.
5. Eine innerbetriebliche Klärung kann im Einzelfall geboten sein. Es gilt die Faustregel: Je schwerer die vermutete Straftat, desto eher darf der Arbeitnehmer sofort zur Polizei gehen. Wenn im Einzelfall berechtigterweise keine Klärung zu erwarten war, kann der Arbeitgeber die innerbetriebliche Klärung „überspringen“ und gleich zur Polizei gehen.
Vergleich hierzu: Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 3.7.2003 (Aktenzeichen: 2 AZR 235/02) und Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 28.3.2006 (Aktenzeichen: 7 Sa 1884/05).
Europäische Gerichte aktuell: Am 21.7.2011 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im sogenannten Whistleblower-Fall Heinisch v. Bundesrepublik (zuvor Heinisch gegen Vivantes, LAG Berlin-Brandenburg vom 28.3.2006), dass ein Arbeitnehmer selbst dann Strafanzeige gegen seinen Arbeitgeber stellen darf, wenn sich die Anschuldigungen nicht belegen lassen. Die vom Bundesarbeitsgericht aufgestellten Grundsätze über die Kündigung wegen einer Strafanzeige des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber haben sich als zu arbeitnehmerfreundlich erwiesen. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit muss in Zukunft bei der Frage, ob eine Kündigung wegen einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber rechtens ist, mehr Gewicht erhalten.
Nach dem EGMR-Urteil wird es mehr denn je erforderlich sein, dass eine klare gesetzliche Reglung Rechtssicherheit für den Hinweisgeber (Whistleblower) schafft.
Fachanwaltstipp Arbeitnehmer: Sollten Sie Missstände innerhalb der Firma erkennen, empfiehlt es sich grundsätzlich, zunächst die Sache innerbetrieblich anzusprechen. Sollten Sie strafbares Verhalten erkennen, ist es u.U. das Beste, sich zuallererst rechtlichen Rat einzuholen. Sollten Sie eine Kündigung erhalten haben, lohnt es sich nach dem aktuellen EGMR-Urteil mehr denn je, eine Kündigungsschutzklage zu erheben. Sehr wichtig ist in dem Fall, dass Sie die 3-Wochen-Frist einer Kündigungsschutzklage nicht verpassen!
Fachanwaltstipp Arbeitgeber: Hören Sie zu, wenn ein Mitarbeiter Missstände anspricht. Oft hat der Mitarbeiter mit seiner Kritik nicht Unrecht. Schließlich ist er an der Sache oft näher dran, als die Geschäftsführung. Bedenken Sie auch eines: Sollte ein solcher Fall – wie der vom Spiegel besprochene – einmal in der Presse landen, dürfte ein nachhaltiger Imageschaden zu befürchten sein. Dem kann Ihre Firma aus dem Weg gehen, indem es die Sorgen der Mitarbeiter ernst nimmt. Ob Sie jemanden, der der Firma absichtlich mit einer Strafanzeige Schaden zufügen will, halten müssen, muss nach dem EGMR-Urteil genau geprüft werden. Verfolgen Sie die öffentliche Debatte über die Rechtmäßigkeit einer Kündigung von Whistleblowern und erkundigen Sie sich nach entsprechenden Änderungen im Gesetz.
Ein Beitrag von Rechtsanwalt Alexander Bredereck, Fachanwalt für Arbeitsrecht und von Dr. Attila Fodor, Rechtsanwalt, Berlin
08.11.2011
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