Fachanwalt für Arbeitsrecht Alexander Bredereck und Rechtsanwalt Dr. Attila Fodor, Berlin zur Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 28.3.2006 (Aktenzeichen: 7 Sa 1884/05), die der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Heinisch v. Bundesrepublik Deutschland (Whistleblower-Fall) voranging. (Kündigung wegen Strafanzeige, Flugblatt-Aktion, Kurzzeiterkrankung)
Fachanwalt für Arbeitsrecht Alexander Bredereck
Ein vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg am 21.7.2011 entschiedener Fall sorgt für Aufsehen. Dort hatte eine Altenpflegerin, die zuvor vor den deutschen Arbeitsgerichten mit ihrer Kündigungsschutzklage gegen den Pflegekonzern Vivantes erfolglos blieb, wegen Verletzung ihres Rechts auf Meinungsfreiheit geklagt. Folgender Fall, vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg in der Berufungsinstanz letztinstanzlich entschieden, liegt dem zugrunde. (Die Revision wurde nicht zugelassen, die Nichtzulassungsbeschwerde hat das Bundesarbeitsgericht am 6.7.2007 mit dem Aktenzeichen: 4 AZN 487/06 zurückgewiesen.)
Wegen angeblicher Missstände in einem Berliner Pflegeheim hat eine Altenpflegerin zunächst die Heimleitung und den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) informiert. Nachdem ihrer Meinung nach zu wenig getan wurde, erhob die Altenpflegerin über ihren Anwalt Strafanzeige. Parallel hierzu nahm sie an einer Flugblattaktion teil, in dem der Vorgang (und die Strafanzeige) im Pflegeheim verbreitet wurde. In der Zwischenzeit wurde die Pflegerin häufig krank. Der Arbeitgeber kündigte der Pflegerin sowohl wegen der Teilnahme an der Flugblattaktion, als auch wegen Erhebung der Strafanzeige und zudem auch wegen häufiger Kurzzeiterkrankung.
Das Landesarbeitsgericht hatte nur noch über die Kündigung wegen der Strafanzeige zu entscheiden. Es meinte im Kern, dass die Tatsachen, auf die sich die Altenpflegerin bei ihrer Anzeige gestützt hat, nicht nachgewiesen werden konnten. Es handelt sich nach Auffassung des Gerichts um Angaben „ins Blaue hinein“. Die Altenpflegerin warf dem Vivantes-Pflegeheim unter Anderem Abrechnungsbetrug vor. Das Landesarbeitsgericht sah hierzu jedoch keinen substantiierten Tatsachenvortrag. Das Gericht ging davon aus, dass es der Altenpflegerin nur darauf ankam, den Arbeitgeber mit einer Kampagne schlecht zu machen. Aus diesem Grund befand das LAG, dass die Strafanzeige nicht dem grundgesetzlich geschützten Bereit unterfällt – und dass die Kündigung rechtens sei. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied hingegen, dass die Aussagen der Altenpflegerin in ihrer Strafanzeige vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt seien und dass das öffentliche Interesse am Aufdecken von Missständen in der Altenpflege das Interesse des Pflegekonzerns am Schutz seines Rufes und seiner Geschäftsinteresse überwiegt.
Die Wirkung des EGMR-Urteils auf die deutsche Rechtspraxis wird abzuwarten sein. Jedenfalls sollte für diese Fälle in Zukunft durch eine klare Reglung im Gesetz Rechtssicherheit geschaffen werden. Die Position des Hinweisgebers bzw. Whistleblowers dürfte jedenfalls gestärkt sein.
Anwaltstipp Arbeitnehmer: Sollten Sie Missstände innerhalb der Firma erkennen, empfiehlt es sich grundsätzlich, zunächst die Sache innerbetrieblich anzusprechen. Sollten Sie strafbares Verhalten erkennen, ist es u.U. das Beste, sich zuallererst rechtlichen Rat einzuholen. Sollten Sie eine Kündigung erhalten haben, lohnt es sich nach dem aktuellen EGMR-Urteil mehr denn je, eine Kündigungsschutzklage zu erheben. Achtung! Beachten Sie unbedingt die 3-Wochen-Frist einer Kündigungsschutzklage.
Anwaltstipp Arbeitgeber: Hören Sie zu, wenn ein Mitarbeiter Missstände anspricht. Oft hat der Mitarbeiter mit seiner Kritik nicht Unrecht. Schließlich ist er an der Sache oft näher dran, als die Geschäftsführung. Bedenken Sie auch eines: Sollte ein solcher Fall einmal in der Presse landen, dürfte ein nachhaltiger Imageschaden zu befürchten sein. Ob Sie jemanden, der der Firma absichtlich mit einer Strafanzeige Schaden zufügen will, halten müssen, muss nach dem EGMR-Urteil genau geprüft werden. Erkundigen Sie sich nach entsprechenden Änderungen im Gesetz und nach der Wirkung des EGMR-Urteils auf das deutsche Arbeitsrecht.
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