Wie Krankenkassen Rollstuhlfahrern dringend benötigte Treppensteighilfen verweigern.
Berlin, September 2011. Krankenkassen nutzen ein Urteil des Bundessozialgerichts, um Rollstuhlfahrern keine Treppensteighilfen mehr zu bezahlen. Die Begründung: Raus zu kommen, soziale Kontakte zu pflegen und das Überwinden von Treppen innerhalb der eigenen vier Wände diene nicht der medizinischen Rehabilitation. Und nur dafür seien die Kassen zuständig. Für die Betroffenen ist das ebenso eine Katastrophe wie für die Hilfsmittelbranche.
Anlass des Urteils war die Klage einer Frau, die an Multipler Sklerose leidet und von ihrer Krankenkasse eine mobile, elektrisch betriebene Treppensteighilfe bekommen wollte, um so mit Unterstützung einer Hilfsperson Freunde und Bekannte sowie Ärzte und die Kirche besuchen zu können. Die Kasse lehnte ab, das Bundessozialgericht bestätigte in dritter Instanz die Ablehnung. Denn für die soziale und gesellschaftliche Integration, so die Richter sinngemäß, sei die Krankenkasse nicht zuständig, sondern eher das Sozialamt.
Das Urteil ist, wie fast immer bei solchen Klagen, eine Einzelfallentscheidung, die nicht ohne weiteres auf andere Betroffene übertragen werden kann. Theoretisch jedenfalls. Das Problem ist nur, dass einige Krankenkassen die Sache anders interpretieren, quasi so tun, als handele es sich hier um einen Präzedenzfall.
Und das zum Teil auf perfide Weise: Es gibt Kassen, die mit Hinweis auf das Urteil die beantragte Treppensteighilfe nicht etwa ablehnen, sondern sie erklären sich schlicht für nicht zuständig. Damit ist auch kein echter Widerstand möglich, das heißt Betroffene können nicht dagegen klagen.
Statt die Kosten zu übernehmen, haben Krankenkassen schon den Antrag an das Sozialamt weitergeleitet mit der Bitte um Prüfung. Durch diese Vorgehensweise werden die Versicherten mit ihren berechtigten Ansprüchen zum Spielball der Krankenkassen und darüber hinaus von Amts wegen zu Bittstellern reduziert.
Wenn auch das Sozialamt die Treppensteighilfe nicht bezahlt, denn hier wird meist zu Unrecht eine Offenlegung der Vermögensverhältnisse verlangt, muss der Rollstuhlfahrer eben umziehen. Will er das nicht oder kann es sich es nicht leisten, dann bleibt er im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen, anstatt Freunde zu besuchen. Außerdem kann er sich auch innerhalb seiner mehrgeschossigen Wohnung nicht mehr vom Wohnzimmer in das Bad oder Schlafzimmer bewegen, denn das Urteil besagt, dass die individuelle Wohnsituation nicht das Problem des Kasse ist.
Offenbar versuchen Krankenkassen auch den Eindruck zu erwecken, dass sie seit dem Urteil Treppensteigehilfen gar nicht mehr erstatten dürfen. Was eindeutig nicht der Fall ist. Dennoch schrieb die BKK Diakonie einer Frau, die mit Hilfe einer Treppensteigehilfe ein bis zweimal pro Woche eine Tagespflege-Einrichtung besuchen wollte und sich gegen die Ablehnung der Erstattung gewehrt hatte: „Leider können wir Ihrem Widerspruch nicht abhelfen, da die höchstrichterliche Entscheidung bindend für uns ist.“
Dass auch soziale Kontakte und geistige wie körperliche Anregung zur Rehabilitation beitragen, scheint den betreffenden Krankenkassen nicht in den Sinn zu kommen. Thomas Alber, Geschäftsführer der AAT Alber Antriebstechnik GmbH aus Albstadt, die unter anderem Treppensteighilfen herstellt: „Es genügen schon vier Stufen vor der Haustür, die sind für einen 70-Jährigen im Rollstuhl ein unüberwindbares Hindernis. Seine Frau bekommt ihn da keinesfalls hinunter und wieder hinauf. Und wenn sie es, zusammen mit einer zweiten Person, versucht, dann ist das sehr gefährlich. Oft passieren dabei Bandscheibenvorfälle, die für die Krankenkassen am Ende viel teurer sind als eine Steighilfe.“
Das gilt erst recht, weil ohnehin nicht jeder Betroffene eine eigene, etwa 5.000 Euro teure Steighilfe bekommt. Sondern im Regelfall kaufen die Krankenkassen dieses Hilfsmittel und verleihen es an einen Rollstuhlfahrer, der es benötigt. Braucht er es dann – warum auch immer – nicht mehr, verleihen die Kassen es weiter. So wird jede Steighilfe etwa drei- bis viermal eingesetzt.
Selbst mit dieser sehr kosteneffizienten Form der Erstattung soll nach dem Willen einiger Kassen jetzt Schluss sein. Die Knappschaft wies sogar ein Sanitätshaus darauf hin, dass „Reparaturen….ebenfalls nur nach ausdrücklicher Genehmigung vergütungsfähig“ seien.
Und auch das ist noch nicht alles. Thomas Alber: „Mit derselben Begründung wie im Falle der Treppensteighilfe lehnen Krankenkassen mittlerweile sogar die Kostenübernahme für elektrische Schiebehilfen ab. Wenn das Schule macht, dann sind bald alle Mobilitätshilfen betroffen, dann fühlen sich die Krankenkassen bald für nichts mehr zuständig außer für einen einfachen manuellen Rollstuhl. Dann wird am Ende die Rollstuhlversorgung noch ausgeschrieben und der billigste bekommt den Zuschlag. Der kommt dann aber mit Sicherheit nicht aus Deutschland, sondern eher aus China.“
Thomas Alber weist nicht als einziger darauf hin, dass die Entscheidung des Bundessozialgerichts und vor allem ihre Interpretation durch eine Reihe von Krankenkassen nicht nur für Menschen mit Behinderung, sondern auch für die Hilfsmittelbranche katastrophale Folgen haben kann. Im ‚Worst Case‘ muss das Albstädter Unternehmen, dadurch die Belegschaft halbieren, das heißt 35 Leute entlassen. Dessen auch in Albstadt ansässiger Mitbewerber mit über 200 Mitarbeitern wäre hiervon ebenfalls betroffen.
Bei den Zulieferern stehen dann zusätzlich 50 Stellen zur Disposition. Bei einem anderen Unternehmen der Branche, ebenfalls mit Sitz in Albstadt, und seinen Zulieferern sind weitere 150 bis 200 Arbeitsplätze gefährdet. Und das in einer ohnehin strukturschwaren Region.
Thomas Alber: „Die deutsche Hilfsmittelbranche ist die innovativste der Welt. Wir sind in unserem Segment oft Weltmarktfüher. So etwas kann nur auf einem guten Heimmarkt entstehen. Fällt dieser Weg oder wird er sehenden Auges kaputtgemacht, dann verschwindet auch die Kompetenz. Und das kann ja nicht gewollt sein.“
Der zuständige Richter, Dr. Ulrich Hambüchen, wollte sich auf Nachfrage übrigens nicht zu der Sache äußern. Das Bundessozialgericht gebe grundsätzlich keine Kommentare zu den eigenen Urteilen ab, so Hambüchen.
Die Bundesinitiative Daheim statt Heim wurde am 1. Dezember 2006 in Berlin von der Bundestagsabgeordneten Silvia Schmidt gemeinsam mit Wissenschaftlern, Pflegeexperten, Fachjournalisten, Politikern, Selbsthilfeorganisationen und anderen gegründet. Durch die wachsende Unterstützung ist die Initiative schnell zu einer breiten gesellschaftlichen Bewegung geworden. Als Anwalt älterer, behinderter und pflegebedürftiger Menschen kämpft sie für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden.
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