Indien ist ein hochmodernes Land, doch mehr und mehr wurde die Welt in den letzten Monaten gewahr, dass es auch seine Schattenseiten hat. Massenvergewaltigungen sind dort kein Einzelfall und erst kürzlich bekamen vier Männer für dieses Vergehen die Todesstrafe. Was geht in einem Land vor sich, in dem Bollywood uns eine heile Welt vorspielt?
Frauen sind in Indien generell viel Gewalt ausgesetzt. „Die Welt“ veröffentlichte kürzlich einen Artikel, in welchem die Gender-Expertin Theresa Devasahayam befragt wurde, weshalb Frauen so häufig vergewaltigt würden. Sie begründet dies mitunter damit, dass die meisten Teile Indiens patriarchalische Gesellschaften seien und sagt aus: „Hier gibt es auch andere Arten der Gewalt gegenüber Frauen: Kindsmord an weiblichen Säuglingen, Eltern, die ihren Töchtern die Nahrung oder medizinische Versorgung verweigern. Sie wissen, wenn sie in ein Mädchen investieren, haben sie keinen Nutzen davon. (…) In anderen Ländern werden die Frauen – obwohl es überall häusliche Gewalt gibt, stärker respektiert. Es sind bilaterale Gesellschaften, wo Frauen auch zum Broterwerb beitragen.“ Doch nicht nur der kulturelle Hintergrund mag erklären, weshalb in Indien so viele Frauen misshandelt werden. Bislang hat Indien noch kein Gesetz verabschiedet, das Frauen wirklich vor Vergewaltigungen schützt.
Am 16. Dezember 2012 ereignete sich eine Gruppenvergewaltigung in Delhi, die weltweit publik wurde. Von sechs Männern misshandelt und vergewaltigt, erlag die 23-jährige Inderin Jyoti Singh Pandey 13 Tage später ihren inneren Verletzungen. Ärztlichen Aussagen zufolge deuteten ihre Genitalverletzungen zudem daraufhin, dass sie mit einem stumpfen Gegenstand penetriert wurde, und nach Berichten der „Hindustan Times“ habe der jüngste Täter den austretenden Darm regelrecht herausgerissen. Aufgrund von Minderjährigkeit wurde ein Angeklagter zur Höchststrafe von drei Jahren Jugendarrest verurteilt, der 34-jährige Ram Singh wurde erhängt in seiner Zelle aufgefunden und die verbliebenen vier Männer bekamen am 13. September 2013 ihr Urteil verkündet, die Todesstrafe. Viele indische Bürger begrüßten das Urteil und seitdem trauen sich zunehmend Frauen ihren Fall von Missbrauch zu melden.
Das traurige Schicksal der Inderin Jyoti Singh Pandey steht exemplarisch für eines von unzähligen; zudem haben auch die Medien mehr und mehr Fälle von Vergewaltigungen veröffentlicht. Ein 2-jähriges Mädchen wurde zu Tode vergewaltigt, ein Mädchen von einer Gruppe von Männern sexuell missbraucht und anschließend angezündet, eine junge Magazin-Fotografin wurde von mehreren Männern missbraucht… Doch die wenigsten Frauen wagen sich an die Öffentlichkeit, wenn sie Opfer einer Vergewaltigung geworden sind. In den Köpfen vieler der dort lebenden Menschen ist es noch immer ein Kavaliersdelikt; Vergewaltigungen in der Ehe scheinen eine Absurdität zu sein – schließlich ist es die Pflicht der Frau, dem Mann „zu gefallen“, Familien der Opfer werden unter Druck gesetzt, die Prozesse ziehen sich über Jahre hin und Frauen müssen teils ihre Vergewaltiger heiraten…
Laut „National Crime Records Bureau“ wird in Indien alle zwanzig Minuten eine Frau vergewaltigt. Die „Frankfurter Rundschau“ berichtete, dass in den letzten zehn Jahren die Vergewaltigungen von Kindern um 336% gestiegen sind – und das sind nur die offiziellen Zahlen. „Amnesty International“ spricht von 228 000 Fällen im Jahr 2012, in welchen Gewalt gegen Frauen registriert wurde. Offensichtlich hat es die indische Regierung nicht geschafft, die Gewalt gegen Frauen einzudämmen – ganz im Gegenteil, in den letzten Jahren ist sie sogar drastisch angestiegen. Jyoti Singh Pandeys Schicksal veranlasste Indien dazu, tätig zu werden, und am 3. Februar 2013 unterzeichnete Staatspräsident Pranab Mukherjee eine Änderung des Sexualstrafrechts. Es ist von nun an verschärft; wenn ein Opfer nach einer Vergewaltigung ins Koma fällt oder stirbt, droht dem Täter die Todesstrafe.
Es ist absolut notwendig, dass Indien handelt und die Gewalt gegen Frauen eindämmt. Die Täter müssen bestraft werden. Doch an den Strukturen und der Kultur wird sich mit diesem Gesetz nichts ändern. Warum sollten viele indische Männer nun plötzlich Frauen achten? Die drohende Todesstrafe als Höchstmaß für gewisse Delikte hat Menschen noch nie davon abgehalten, weiterhin Verbrechen zu begehen. Zudem haben Länder mit der Todesstrafe keineswegs weniger Kriminalität. Das Problem wird damit nicht beseitigt und die Gesetzesänderung wird wohl auch nicht allzuviel bewirken. Es ist sehr begrüßenswert und wichtig, dass Inderinnen auf sich aufmerksam machen und sich endlich trauen zu erzählen, was ihnen widerfahren ist, und dass sie von der Justiz gleichberechtigt behandelt werden… Doch die Todesstrafe für Vergewaltiger, deren Opfer entweder verstorben oder komatös sind, wird ihnen keine Freiheit bringen! Das ist reine Augenwischerei. Natürlich, viele Frauen, welche Gewalt erleben mussten – und auch deren Familien – mögen so etwas wie Euphorie und Bestätigung verspüren, doch es schützt die Frauen nicht.
Indien-Expertin Verena Harpe von „Amnesty International“ sagte: „Als Menschenrechtsorganisation spricht sich Amnesty grundsätzlich gegen die Todesstrafe aus, weil sie das Recht auf Leben verletzt. (…) Vielmehr muss die Polizei angehalten werden, Fälle von Gewalt gegen Frauen überhaupt aufzunehmen, und Täter müssen konsequent bestraft werden. (…) Die indische Regierung ist in der Pflicht, Frauen nachhaltig vor Vergewaltigungen zu schützen. Dazu braucht es einen klaren politischen Willen, der bisher nicht wirklich erkennbar ist.“ Die Initiative gegen die Todesstrafe e.V. kann sich Verena Harpes Worten nur anschließen. Nicht die Todesstrafe gibt Indiens Frauen Schutz, sondern eine konsequente Politik, welche Frauen mehr Sicherheit gewährleistet. Jedes Leben ist kostbar, wenngleich ein anderer es jemandem gewaltsam genommen hat, sollten wir nicht das Gleiche tun. Sollten wir Mörder bestrafen, indem wir zu Mördern werden? Dieser Satz ist wirklich wichtig. Lassen Sie ihn bitte auf sich wirken. Die Antwort lautet schlichtweg: Nein! Nur auf diese Weise können wir dazu beitragen, dass die Welt weniger Leid erfährt.
Nadine Blumensaat
Initiative gegen die Todesstrafe e.V
http://www.initiative-gegen-die-todesstrafe.de