Das Leben ist komplex und auch die Frage, ob man Grundschulkindern die Fahrt mit dem Rad zur Schule erlauben darf, lässt sich längst nicht einfach und pauschal mit Ja oder Nein beantworten. Eine Meldung des Verkehrswacht Medien & Serivce-Centers verunsichert Eltern, Lehrer und Schüler und ruft Kritik bei Fachleuten hervor. Der pressedienst-fahrrad möchte zur Meinungsvielfalt beitragen und hat unterschiedliche Experten befragt.
[pd-f/GuF] Am 28. September veröffentlichte das Verkehrswacht Medien & Serivce-Center eine Meldung unter dem Titel: „Mit dem Rad zur Grundschule?“ . Darin heißt es u. a.: „Aus verkehrspädagogischer Sicht kann man nur raten, Grundschulkinder nicht mit dem Rad zum Unterricht fahren zu lassen.“
Eine Recherche des pressedienst-fahrrad unter einer Vielzahl von Experten ergab jedoch ein differenziertes Bild, „das verunsicherten Eltern, Kindern und Lehrern helfen kann, sich ihre eigene Meinung zu bilden“, so Gunnar Fehlau, Leiter des pressedienst-fahrrad und zusammen mit Caspar Gebel Autor des Familien-Fahrrad-Buchs. Der Vater zweier Grundschulkinder empfiehlt, die konkrete Situation der eigenen Kinder als Entscheidungsgrundlage heranzuziehen und spricht sich gegen pauschale Verbote aus. In die gleiche Richtung argumentiert Lilo Franzen, Betreiberin der Bonner Fahrradschule (www.lilofranzen.de): „Wie ist der kognitive und motorische Entwicklungsstand meines Kindes?“ und „Wie gefährlich ist der Schulweg meiner Kinder wirklich?“, das seien nach Franzens Worten die relevanten Fragestellungen für Eltern.
Aus Sicht von Ralf Puslat, Geschäftsführer des Kinderfahrzeugherstellers Puky (www.puky.de), habe sich in den vergangenen fünf Jahren der motorische und kognitive Entwicklungsstand der Grundschulkinder in Bezug aufs Fahrradfahren verbessert. „Gerade bei den mobilen urbanen Familien gehört das Laufrad für den Nachwuchs mittlerweile zum Standard“, so Puslat. „Und durch das Laufrad sind viele Kinder als Radfahrer im Grundschulalter motorisch deutlich fitter als noch vor ein paar Jahren“. Interessant ist an dieser Stelle ein weiterer fachlicher Einwurf von Puslat: „Normalerweise werden Draußen-Aktivitäten und Computerspiele gerne als Gegensatz begriffen. Doch wirken beide Freizeitbeschäftigungen bei stimmiger Dosierung als motorische und kognitive Entwicklungsbeschleuniger, die Kinder geradezu optimal auf den Straßenverkehr vorbereiten.“
Dieser Lernprozess beginnt laut Franzen übrigens schon lange vor dem eigenen Laufrad, Roller oder Rutscher. „Bereits ausgiebige Bewegungsmöglichkeiten im Krabbelkind- und Kleinkindalter sowie das regelmäßige Mitfahren im Kinderanhänger schulen alle Sinne und leisten damit einen unabdingbaren Beitrag für die Verkehrsfähigkeit von Kindern.“
Auch Interessenverbände uneins
Offensichtlich scheint die Frage nach der Verkehrsmittelwahl für Grundschüler auch zum Spielball der Interessenverbände zu werden. So argumentiert der Allgemeine Deutsche Automobil-Club (ADAC, www.adac.de) auf telefonische Anfrage des pd-f eher gegen die Fahrt mit dem Rad zur Grundschule und rät den Weg per Pedes oder im Bus zurückzulegen.
Dem gegenüber empfiehlt Horst Hahn-Klöckner, Bundesgeschäftsführer des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs e. V.(ADFC, www.adfc.de) Eltern sogar ausdrücklich, Kinder mit dem Rad zur Schule fahren zu lassen, weil das ihre Selbständigkeit und ihre körperliche Entwicklung fördere. Auf Anfrage des pd-f fasst er den Rechtsrahmen so zusammen: „Rechtlich gesehen dürfen Kinder in jedem Alter, also auch im Grundschulalter, zur Schule fahren. Kein Lehrer oder Schulleiter kann ihnen das verbieten.“ Gleichzeitig appelliert Hahn-Klöckner an die Eltern, dafür zu sorgen, „dass das Kind einen sicheren Weg wählt und die Gefahrenstellen kennt und mit ihnen umgehen kann.“ In diesem Zusammenhang weist der Bundesgeschäftsführer auch auf die Verantwortung der Städte und Kommunen hin, die in einer Infrastruktur liegt, in der auch Fahranfänger sicher unterwegs seien.
Dieser Sicht schließt sich auch Albert Herresthal, Vorstand des Verbundes Service und Fahrrad (VSF, www.vsf.de), an: „Die Position der Verkehrswacht ist völlig unverständlich und sehr kurzsichtig. Sie dient der Sicherheit in keiner Weise. Kinder müssen lernen, sich auf dem Rad im Verkehr zu bewegen. Früh übt sich schließlich, wer ein Meister werden will – das sollte anfangs ja auch durchaus in Begleitung Erwachsener geschehen. Dann können Eltern auch beurteilen, ob ihr Kind bereits selbstständig zur Schule fahren kann.“
Empfehlungen aus Brüssel
Als einen wichtigen Schritt in Richtung sicheren Stadtverkehrs und damit auch sicherer Wege für Grundschulkinder kann der Inhalt der aktuellen Pressemeldung der European Cyclists Federation (ECF, www.ecf.com) verstanden werden. Sie berichtet, dass das Europäische Parlament den verantwortlichen Behörden europaweit dringend empfehle, die Geschwindigkeitsbegrenzung in Wohngegenden und einspurigen Straßen ohne Radweg generell auf 30 km/h zu beschränken.
In Bezug auf die Frage, wie gefährlich der Weg zur Schule mit dem Rad aktuell sei, weist Stephan Schreyer vom Zweirad Industrie Verband (ZIV, www.ziv-zweirad.de) darauf hin, dass Kinder bis acht Jahren auf dem in der Regel deutlich sicheren Bürgersteig fahren müssen und dass Kindern bis zehn Jahren dieser ebenfalls zur freiwilligen Verfügung steht. Generell spricht sich der ZIV laut Schreyer dafür aus, dass Kinder möglichst frühzeitig mit dem Radfahren Lernen beginnen und das Fahrrad mit Hilfe ihrer Eltern in ihre Mobilität integrieren.
Perspektivenwechsel bringt weitere Argumente pro Fahrrad
Die Fragestellung, ob das Kind mit dem Rad zur Grundschule fahren sollte, kann nach Worten von Georg Stingel, Direktoriumsmitglieder der“Aktion Gesunder Rücken“ (www.agr-ev.de) auch aus einer anderen Perspektive betrachtet werden: „Unsere Gesellschaft leidet unter den Folgen von Bewegungsmangel; Sportlehrer und Ärzte klagen über die mangelnde Koordinationsfähigkeit und Übergewicht der Kinder, da wäre es geradezu fahrlässig, Kindern zu verbieten, mit dem Rad zur Schule zu fahren!“
Statistische Zahlen gegen individuelle Ängste
Betrachtet man die Zahlen des Statistischen Bundesamtes (Artikelnummer: 546240510700-4: „Statistisches Bundesamt, Kinderunfälle im Straßenverkehr, 2010“ vom 31.08.2011), so ist in absoluten Zahlen gesehen der Sitz im Automobil der gefährlichste Ort für Grundschulkinder im Straßenverkehr. Im Jahr 2010 saßen 37 Prozent der verunglückten Grundschüler im PKW, 34 Prozent waren Fußgänger und 24 Prozent Fahrradbenutzer. Zudem sind Todesfälle von radelnden Kindern rückläufig, im Vergleich von 2009 auf 2010 fiel ihre Anzahl um 17 Prozent.
Die Empfehlungen der Experten können nach Meinung des pd-f den Eltern nicht die Verantwortung für die Entscheidung der Verkehrsmittelwahl ihrer Grundschulkinder abnehmen. Wesentlich ist dabei, dass die Fahrzeugwahl mit dem richtigen vorbildlichen Verhalten und einer gleichsam spielerischen und erzieherischen Heranführung an die aktive Teilnahme im Straßenverkehr einhergeht. Ein Tipp ist übrigens bei allen Experten gleich: Kinder (wie auch Erwachsene) sollten im Alltag niemals ohne Helm auf dem Fahrrad unterwegs sein.
Der pressedienst-fahrrad hat es sich zur Aufgabe gemacht, dem guten Fahrrad und dessen Anwendung mehr Öffentlichkeit zu verschaffen. Denn wir sind der Meinung, dass Radfahren nicht nur Spaß macht und fit hält, sondern noch mehr ist: Radfahren ist aktive, lustvolle Mobilität für Körper und Geist. Kurz: Radfahren ist Lebensqualität, Radfahren ist clever und Radfahren macht Lust auf mehr…
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