Die Bundesarbeitsministerium
sorgt sich um den Arbeitsschutz in Deutschland und fordert, die ständige
Erreichbarkeit von Arbeitnehmern zu unterbinden. Ihre Kollegin aus dem
Familienministerium drängt derweil auf einen freien Sonntag, an dem Ruhe gelten
soll. Grund für die Debatte sind Zahlen, wonach sich immer mehr Deutsche durch
SMS, Mails oder Telefonate nach dem Feierabend oder am Wochenende überfordert
fühlen. Wie Umfragen ergeben haben, fühlen sich mindestens ein Viertel der
Arbeitskräfte dadurch gestresst, eine überwiegende Mehrheit befürwortet, das
Erreichbarsein außerhalb des Dienstes auf ein Minimum zu reduzieren.
Psychologen und Psychiater
haben nun eindringlich davor gewarnt, das Problem zu unterschätzen: Sie
befürchten, dass sich aus der Verpflichtung zum „Dauer-Standby“ langfristig ein
zwanghaftes Verhalten entwickeln könnte – das schleichend auch in eine
Erkrankung übergehen kann. Der Selbsthilfegruppenleiter für Zwangsstörungen,
Dennis Riehle (Konstanz), sieht in dieser Einordnung ein Unterscheidungsproblem:
„Aus der Sicht eines von Zwängen betroffenen Laien scheint mir die
Eingruppierung des ‚Rund um die Uhr – Kommunizierens‘ nicht schlüssig.
Zwanghaftes Verhalten hat ebenso wie eine Zwangserkrankung klare
Diagnoserichtlinien, die erfüllt sein müssen, um von solch einem Problembild
sprechen zu können. Viel eher haben das pausenlose Kontrollieren des
Handy-Displays, das nahezu minütliche Versenden von Kurzmitteilungen oder der
mehrfache Blick ins Mail-Postfach aus meiner Einschätzung einen anderen
Charakter. Für mich sind hier klassische Elemente der Sucht vorhanden.“
Riehle begründet seine
Ansicht wie folgt: „Was man einem zwanghaften Verhalten, also einer
anankastischen Persönlichkeit, und dem sich nicht lösen Können von dauernder
Kommunikation als gemein sehen kann, das ist möglicherweise noch der Drang zum
Perfektionismus und die Angst, einen Fehler zu machen. Man will nichts
verpassen, um später nicht für etwas schuldig gemacht zu werden oder einen
schlechten Eindruck zu hinterlassen. Gleichzeitig steckt dahinter ja auch der
Wunsch, wahrgenommen und gebraucht zu sein. Das kann dann schon eher in
narzisstische Züge übergehen. Andere Merkmale einer zwanghaften Störung wie
Pedanterie, besonderer Zweifel oder Vorsicht, Eigensinn und das Verlangen nach
Konventionen bringe ich allerdings nicht mit den ‚Dauer-Simsern‘ in
Verbindung“.
Gleichermaßen scheint für
Riehle auch ein Zusammenhang mit einer ausgeprägten Zwangserkrankung nicht
erkenntlich: „Eine Zwangsstörung braucht als wesentliches Diagnosekriterium den
Willen des Betroffenen, sich gegen sein Verhalten zuwider zu setzen – und das
deswegen, weil er es als störend und sogar bedrängend erlebt. Der Leidensdruck
steht im Mittelpunkt. Davon kann beim ständigen Kommunizieren keine Rede sein:
Gleichwenn die konsequente Erreichbarkeit für Arbeitnehmer und Privatleute als
stressreich wahrgenommen werden mag, so ist auch Spaß und
Selbstverständlichkeit an der Kommunikation erkenntlich. Zwar mögen auch
Zwangshandlungen als immer wiederkehrende und stereotype Verhaltensweisen
auftauchen, sie werden aber in aller Regel als unangenehm wahrgenommen – und
zwar im Sinne einer Bedrohlichkeit, einer Aversion oder einer Unsinnigkeit.
Auch das scheint für mich nicht auf die Betroffenen zu passen, die über die
Überforderung durch den Dauerkontakt klagen.“
In seiner Argumentation
verweist Riehle auch auf die Merkmale von Abhängigkeitserkrankungen: „Für mich
ist in meiner Meinung wegweisend, dass sich beim Konsum neuer
Kommunikationsmittel mittelfristig ein Toleranzniveau einstellt. Der Bedarf
nach immer noch mehr SMS, Mails oder Anrufen steigt, sobald sich ein gewisser
‚Pegel‘ eingependelt hat. Gleichzeitig scheint mir auch die materielle
Abhängigkeit ein hinreichendes Indiz zu sein, von einem eher suchtartigen Verhalten
statt von einem Zwang zu sprechen: Wenn das Handy oder ‚Mobilephone‘ zum besten
Freund werden, dann hat das für mich durchaus Parallelen zum Alkohol- oder
Nikotinmissbrauch.“
Schlussendlich sieht Riehle
allerdings die Beweggründe für das Kommunikationsverhalten als
ausschlaggebenden Punkt: „Zwangshandlungen sind zwar ritualisierte
Verhaltensweisen, jedoch treten sie meist reaktiv als Neutralisation eines sich
aufdrängenden Impulses oder von Gedanken auf. Zwänge werden dazu genutzt,
Anspannung und Stress zu kompensieren, Ablenkung zu schaffen oder vor
Kontrollverlust zu bewahren. Dies ist eine völlig andere Funktionalität als bei
der empfundenen Verpflichtung, ständig erreichbar zu sein. Hier handeln die
Betroffenen gewillt und bis zum Auftreten erster Konsequenzen wie das
überfordernde Erleben oder zunehmenden Stress auch ganz bewusst in der Ansicht
von Normalität und ohne jedes Leidensempfinden. Viel eher bestätigt es sogar,
jede SMS zu beantworten und alle Mails mit zu verfolgen – im Sinne dessen, dass
man ‚am Ball bleibt‘.“
Für Riehle mag hinter der
Einordnung dieses neuen Phänomens auch ein Stück weit Verdrängung stehen: „Man
könnte zwanghaftes Verhalten als perfektionistisches Bestreben sogar als
lobenswert betrachten – das Eingestehen, dass hier eher suchtartige Züge
vorliegen, dürfte möglicherweise eher mit einem noch negativeren Stigma
verbunden sein“. Riehle spricht sich dennoch dafür aus, dass „in der Reihe von
neuen Abhängigkeitserkrankungen wie der Spielsucht am Computer auch das Phänomen,
sich nicht mehr von Mailbox und Telefon lösen zu können, als ernsthaftes
Suchtproblem wahrgenommen wird“.