Fehlende Patientensicherheit macht ärztliche Kunst zunichte

15. Europäischer Orthopädie-Kongress EFORT – 4.-6. Juni 2014, London

50 Operationen pro Woche in Europa an der falschen Stelle oder der falschen Person – mangelhafte Patientensicherheit macht ärztliche Kunst zunichte und verursacht hohe Kosten. Beim EFORT Kongress in London liegt der Tagungsschwerpunkt auf diesem dringlichen Thema. Derzeit laufen auf EU-Ebene Diskussionen, wie die Patientensicherheit verbessert werden kann.

London, 4. Juni 2014 – „Die größten Fortschritte der Medizin kommen bei den Menschen nicht an, wenn die nötigen Vorkehrungen zur Patientensicherheit fehlen“, warnte Prof. Pierre Hoffmeyer (Universitätsklinik Genf) beim 15. EFORT Kongress in London. Einige alarmierende Beispiel: Pro Woche werden in Europa 50 Operationen an der falsche Stelle oder an den falschen Patienten/-innen durchgeführt. 15 bis 20 Prozent der postoperativen Infektionen wären durch mehr Hygiene vermeidbar. In 20 untersuchten OECD Ländern tauchen pro 100.000 Spitalsakten von erwachsenen Patienten/-innen fünf Fälle auf, bei denen während der OP ein Fremdkörper in den Operierten vergessen wurde.

Organisiert wird der Kongress in London von der European Federation of National Associations of Orthopaedics and Traumatology (EFORT) gemeinsam mit der British Orthopaedic Association (BOA). „Patientensicherheit“ ist das zentrale Thema dieses wissenschaftlichen Großereignisses, zu dem mehr als 7.000 Teilnehmer/-innen aus aller Welt in der britischen Hauptstadt zusammentreffen.

“In den vergangenen Jahren haben wir in der Orthopädie die Einführung von neuen Materialien, neuen Techniken und neuen Medikamenten erlebt. Immer, wenn es solche neuen Entwicklungen gibt, müssen wir den besten Weg finden, um unseren Patienten/-innen solche Innovationen zugänglich zu machen, ohne sie aber einem Risiko auszusetzen“, betonte EFORT Präsident Prof. Manuel Cassiano Neves (Lissabon). “entscheidend ist, dass wir diesem Problem interdisziplinär und auf integrierte Weise begegnen.”

„Wer Patientensicherheit auf die leichte Schulter nimmt, agiert wie jemand, der sich betrunken hinters Steuer setzt“, betonte Prof. Hoffmeyer, Past President von EFORT. Bis vor kurzem wurde Patientensicherheit als eine Art Nebenprodukt der ärztlichen Heilkunst betrachtet. Inzwischen setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass „Patientensicherheit von zentraler Bedeutung für den Behandlungserfolg ist, ganz besonders für orthopädische Chirurgen/-innen. Auch die Gesundheitspolitik entdeckt in der Patientensicherheit zunehmend einen Schlüssel zu besserer und kosteneffizienterer Gesundheitsversorgung“, so Prof. Hoffmeyer. „Wir möchten mit dem Kongressschwerpunkt das Bewusstsein für die Bedeutung von Patientensicherheit steigern und die auch scheinbar banalen Dinge diskutieren, die letztendlich entscheidend für Erfolg oder Misserfolg einer Behandlung sind. Durch konsequente Patientensicherheitsprogramme lassen sich Leid und Kosten vermeiden, doch sie sind oft schwerer in die Praxis umzusetzen als angenommen“, so Prof. Hoffmeyer.

Komplexe Kulturveränderungen

In den USA wird beispielsweise bereits seit Jahren propagiert, Patienten/-innen einen Tag vor der OP mit einem Stift zu markieren, um am nächsten Morgen sicher zu gehen, dass der richtige Chirurg die richtige Person an der richtigen Stelle operiert. Theoretisch eine sehr einfache Idee, praktisch betrachtet muss eine komplexe Krankenhauskultur geändert werden: Vom immer und überall verfügbaren Stift über Anästhesisten/-innen, die sich weigern, nicht markierte Patienten/-innen zu narkotisieren, bis hin zu einer Spitalsleitung, die in Kauf nimmt, dass unter Umständen weniger OPs durchgeführt werden.

Checklisten senken Sterblichkeits- und Komplikationsrate

Vor, während und nach einer Operation sollte das Vorgehen nach Checklisten selbstverständlich sein, so Prof. Hoffmeyer. Die meisten nationalen Fachgesellschaften hätten entsprechende Empfehlungen herausgegeben, dennoch setzten sie sich erst langsam durch. „In vielen Krankenhäusern mag es zwar Checklisten geben, doch mit der tatsächlichen Anwendung gibt es nach wie vor Probleme.“ Es sei aber die denkbar schlechteste Situation, ohne solche Kontrollen anzunehmen, dass für alles gesorgt sei und alle Bescheid wüssten. „Meine Forderung ist sehr klar: Bei jeder Operation muss unbedingt nach einer Checkliste vorgegangen werden. Das erspart viele vermeidbare Tragödien, letztlich auch für die Chirurgen/-innen, die falsche oder missglückte Eingriffe verantworten müssen“, unterstrich Prof. Hoffmeyer. Eine großangelegte internationale Studie belegte, dass die Sterblichkeitsrate nach Einführung von Checklisten von 1,5 Prozent auf 0,8 Prozent sank. Die Komplikationsrate konnte ebenfalls von elf auf sieben Prozent gesenkt werden.

Postoperative Infektionen kosten bis zu zehnmal mehr als die OP

Dass mangelhafte Patientensicherheit hohe, unnötige Gesundheitsausgaben verursacht, ruft inzwischen die Gesundheitspolitik europaweit auf den Plan. Die Folgekosten durch eine postoperative Infektion können bis zu zehnmal so hoch sein wie die OP selbst – durch weitere Behandlungskosten, Nachoperation oder Arbeitsunfähigkeit. Die Kosten für einen Hüftersatz belaufen sich in Europa auf durchschnittlich 7.300 Euro, verdoppeln sich aber, wenn die Hüfte falsch implantiert wird. Auch die Sicherheit der Implantate selbst ist derzeit ein großes Thema: „In der Hüftprothetik wurden lange Metall-Metall-Gleitpaarungen mit großem Durchmesser aufgrund einer besseren Stabilität und eines vermuteten geringen Abriebes vor allem bei jungen, aktiven Patienten/-innen implantiert. Lokale metall-assoziierte Weichteilreaktionen, Osteolysen und stark erhöhte systemische Ionen-Konzentrationen haben jedoch zu einer hohen Revisionsrate geführt. Verschiedene nationale Aufsichtsbehörden und orthopädische Gesellschaften haben Richtlinien zur Nachkontrolle und Behandlung solcher Patienten/-innen publiziert. Inzwischen hat sich auf EU-Ebene eine Arbeitsgruppe aus EFORT-Experten/-innen gebildet, die sich speziell der Frage widmet, wie mit den Metall-auf-Metall-Prothesen umgangen werden soll“, so Prof. Hoffmeyer.

Europäische Guidelines

Der EFORT Past President geht davon aus, dass die Politik auf europäischer Ebene bald mit Guidelines oder sogar gesetzlichen Vorgaben auf die drängenden Probleme rund um die Patientensicherheit reagieren wird. „Europäische Fachgesellschaften wie EFORT müssen sich mit ihrer Expertise aktiv in die Gestaltung solcher Vorgaben einbringen. Die Maßnahmen müssen praktikabel und evidenzbasiert sein, und wir dürfen nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen.“

Hintergrund EFORT

Die European Federation of National Associations of Orthopaedics and Traumatology (EFORT) ist die Dachorganisation nationaler orthopädischer Fachgesellschaften in Europa. EFORT wurde 1991 im italienischen Marentino gegründet. Heute gehören ihr 45 nationale Mitgliedsgesellschaften aus 42 Ländern und elf assoziierte wissenschaftliche Organisationen an.

EFORT ist eine Non-Profit Organisation. Das Ziel der Mitgliedsgesellschaften ist es, den Austausch von wissenschaftlichem Fachwissen und von Erfahrungen in der Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten und Verletzungen des muskuloskelettalen Systems zu fördern. EFORT organisiert einen jährlichen Kongress, Seminare, Kurse, Foren und Konferenzen in ganz Europa. Ferner werden Grundlagenforschung und klinische Forschung initiiert und unterstützt.

Quellen:
OECD (2012): „Hip and knee replacement“ at „Health at a Glance“, OECD Publishing; OECD (2013), “Surgical complications”, in Health at a Glance 2013: OECD indicators, OECD Publishing ; N Engl J Med 2009; 360:491-499January 29, 2009; DOI: 10.1056/NEJMsa0810119; EFORT Congress Symposium Patient Safety, 4 June 2014

Info:
15th EFORT Congress 2014 – Medienkontakt: Dr. Birgit Kofler, B&K Kommunikationsberatung; E-Mail: kofler@bkkommunikation.com; Mobil: +43 676 6368930; Tel. Wien: +43 1 3194378 13; Tel. Berlin: +49 30 700159676