Der zurückgetretene EU-Gesundheitskommissar John Dalli wirft Kommissionspräsident José Manuel Barroso vor, ihn in einem Gespräch unter vier Augen unsanft aus dem Amt gedrängt zu haben. „Als ich um Bedenkzeit gebeten und meinen Wunsch vorgetragen habe, juristischen Rat einzuholen, gab er mir 30 Minuten Zeit. Ich fühlte mich lächerlich gemacht und habe ihm gesagt: `Ich werde zurücktreten`“, sagte Dalli der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (Samstagausgabe).
Das europäische Betrugsbekämpfungsamt (Olaf) hatte in einem Anfang der Woche Barroso übermittelten Bericht dem 64 Jahre alten Malteser vorgeworfen, seine Amtspflichten verletzt zu haben. Im Mittelpunkt der Ermittlungen stand ein Angebot eines maltesischen Unternehmers an einen auf den umstrittenen Lutschtabak Snus spezialisierten Tabakkonzern, gegen eine hohe – nicht bekannte – Summe seine Kontakte zu dem Kommissar bei der geplanten Überarbeitung des EU-Regelwerks für Tabakwaren zu nutzen. Dalli habe davon gewusst, aber nichts dagegen unternommen, lautet im Kern der Vorwurf; über den Fall muss nun ein maltesisches Gericht entscheiden. Dalli wies die gegen ihn erhobenen Vorwürfe gegenüber der Zeitung abermals kategorisch zurück. Ihm seien nicht nur die Kontakte des Geschäftsmannes mit dem Tabakkonzern, sondern auch dessen finanzielle Forderungen unbekannt gewesen. Bei dem Mann, den Olaf-Generaldirektor Giovanni Kessler nicht benannt hatte, handelt es sich laut Dalli um einen Politiker. Dalli sagte, die seit 2010 geführte Diskussion über die Verschärfung der Tabakgesetzgebung gehe weit über die Anliegen der Hersteller des in allen EU-Staaten mit Ausnahme Schwedens nicht auf dem Markt zugelassenen Snus hinaus. Die Diskussion drehe sich auch um andere rauchfreie Tabakprodukte oder um Abbildungen auf Verpackungen. Gehe es bei der Zulassung von genetisch veränderten Organismen darum, die Risiken genau abzuwägen, sei dies bei Tabakprodukten anders. „Hier kann es keinerlei Vorteil für die Gesellschaft geben – ganz im Gegenteil angesichts von jährlich 700.000 Todesopfern“, sagte Dalli. Nutznießer der jetzigen Entwicklung sei gerade die gesamte Tabakwirtschaft, die sich energisch gegen die geplanten Verschärfungen wehrt. Nach seinem Rücktritt und der voraussichtlich erst im nächsten Jahr zu erwartenden Amtsübernahme durch seinen Nachfolger werde sich die Gesetzgebung in die Länge ziehen, so Dalli. Er rechnet nicht damit, dass es vor Ende der bis Mitte 2014 reichenden Wahlperiode eine Einigung über die Verschärfung der EU-Tabakregelungen geben wird. In den vergangenen Tagen habe er viel Zuspruch von Kommissars-Kollegen und Europaabgeordneten erhalten, sagte der zurückgetretene Gesundheitskommissar. „Ich weiß noch immer nicht, wie die Schlussfolgerungen des Olaf-Berichts lauten. Ich hoffe jetzt, dass es schnell zum Prozess kommt und dass sich dabei herausstellt, dass die Beschuldigungen ohne jegliche Grundlage sind“, erklärte Dalli im Gespräch mit der Zeitung. Die Europäische Kommission bekräftigte hingegen gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Dalli habe selbst beschlossen, aus dem Amt zu scheiden. „Niemand wurde zum Rücktritt gezwungen. Herr Dalli hat selbst entschieden, sofort zurückzutreten“, sagte Kommissionssprecherin Pia Ahrenkilde-Hansen. „Im Lichte der Schlussfolgerungen des Olaf-Berichts war es für Herrn Dalli politisch unhaltbar, als Mitglied des Kollegiums im Amt zu bleiben – und so ist er zurückgetreten.“