77 Prozent der Krankheitslast gehen auf das Konto von Lebensstilerkrankungen, Tendenz steigend. Weltbank-Experte Dr. Armin Fidler fordert eine Priorisierung von Präventionsmaßnahmen. Eine Reihe von Ländern setzt inzwischen auf Abgaben auf ungesunde Lebensmittel, um für Steuerungseffekte zu sorgen und neue Mittel für begrenzte Budgets zu lukrieren.
Bad Hofgastein, 5. Oktober 2012 – Geringere Einnahmen durch Rezession und Arbeitslosigkeit, hohe Staatsschulden, Sparpakete – die globale Wirtschafts- und Finanzkrise bringt die Gesundheitssysteme vieler Länder zusätzlich unter Druck. „Wir können uns jetzt entweder in einen Reformstau hineinsparen oder die Gelegenheit beim Schopf packen und längst fällige Reformen umsetzen“, sagte Dr. Armin Fidler, Chefberater für Gesundheitsfragen der Weltbank, beim European Health Forum Gastein (EHFG). Der wichtigste gesundheitspolitische Kongress der EU steht heuer unter dem Motto „Die Krise als Chance. Gesundheit in Zeiten der Sparpolitik“. Dr. Fidler sprach sich beim EHFG für eine klare Priorisierung der Prävention aus: Das mache nicht nur gesundheitsökomisch, sondern auch volkswirtschaftlich Sinn.
Ruinöse Dimensionen bei Lebensstilerkrankungen
„Die so genannten nichtübertragbaren Krankheiten, also typische Lebensstil-Erkrankungen wie Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder chronische Lungenbeschwerden, nehmen bereits jetzt ruinöse Ausmaße für die Volkswirtschaften an“, warnte Dr. Fidler. Tatsächlich machen nichtübertragbare Krankheiten in den 53 Ländern der WHO-Region Europa 77 Prozent der Krankheitslast aus und sind die Ursache für 86 Prozent aller Todesfälle. Alle Prognosen gehen einhellig von weiteren Zuwächsen aus. Nur einige Beispiele: Die Zahl der jährlichen Todesfälle aufgrund von Krebs in der EU wird von 2000 bis 2015 von 1,12 Millionen auf 1,41 Millionen steigen. Die Zahl der Diabetes-Patienten/-innen wird von 2010 bis 2030 auf geschätzte 66 Millionen anwachsen. 22 Millionen Kinder und Jugendliche in der EU sind übergewichtig oder adipös, laut Prognosen der EU-Kommission kommen mindestens weitere 400.000 pro Jahr dazu.
Schlechte Gesundheit – sinkende Wirtschaftsleistung
„Wenn die Häufigkeit nichtübertragbarer Erkrankungen um zehn Prozent zunimmt, bedeutet das ein Minus im Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent. Die indirekten Kosten dieser Erkrankungen übersteigen die direkten bei weitem. Sie bringen eine Verkürzung der gesunden Lebensspanne und einen Produktivitätsverlust in den so genannten besten Jahren mit sich“, so der Weltbank-Experte. Für die von der Krise ohnehin bereits angeschlagenen Volkswirtschaften stellt das ein großes Risiko dar. Die epidemische Verbreitung der nichtübertragbaren Krankheiten ist besorgniserregend und irritierend zugleich, weil die Krankheiten in hohem Maße auf weithin bekannte und auch vermeidbare Risikofaktoren zurückgehen: Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung, Alkoholmissbrauch und Rauchen. Die wissenschaftliche Evidenz ist selten so klar, wie in dieser Frage. Zentrale Ansatzpunkte, wie sich Millionen von Menschenleben retten lassen, sind Maßnahmen gegen das Rauchen, die Verringerung des täglichen Salzkonsums, um die Häufigkeit von Schlaganfällen und Herzinfarkten einzudämmen, die Eliminierung von Transfetten und die Reduktion von gesättigten Fettsäuren, sowie eine gezielte Förderung der Bewegung, unter anderem über die Verkehrspolitik.
Prävention zahlt sich auch ökonomisch aus
Was maßgeschneiderte Präventionsmaßnahmen bringen können, hat eine Studie der Weltbank gezeigt, und zwar mit einer Analyse des Kosten-Nutzen-Effekts von Lebensstil-Interventionen bei Menschen mit hohem Diabetesrisiko. „Wird ein Präventionspaket mit Fokus auf Ernährungsberatung und Bewegung angeboten, kann in einem Niedriglohnland jeder so investierte Dollar mindestens zwei Dollar an Behandlungskosten einsparen. Bei Ländern mit mittleren Einkommen liegt die Ersparnis sogar bei über drei Dollar“, berichtete der Experte. Doch Präventionspolitik heißt mehr als Bewusstsein schaffen durch Aufklärung. Auch fiskalische und marktpolitische Maßnahmen gehören beispielsweise dazu, um Menschen bei gesunden Lebensstilentscheidungen im Alltag zu unterstützen.
Wasser oder Limonade: Kleine Entscheidungen, große Wirkungen
Eine 2012 im New England Journal of Medicine veröffentlichte Studie des Boston Children Hospitals berichtet etwa, wie verheerend sich allein die Wahl von Getränken auf das Gewicht auswirkt. Verglichen wurden Kinder und Jugendliche, die bereits übergewichtig oder fettleibig waren. Eine Gruppe bekam – im Gegensatz zur Kontrollgruppe – ein Jahr lang Flaschen mit Wasser und kalorienarmen Getränken nach Hause geliefert und wurde regelmäßig ermutigt, auf zuckerhaltige Getränke zu verzichten. Bei der Interventionsgruppe stieg das Gewicht im Projektzeitraum um 1,75 Kilogramm, bei der Kontrollgruppe fiel die Gewichtszunahme mit 3,85 Kilogramm mehr als doppelt so hoch aus. Die Unterschiede nivellierten sich wieder, als die Zustellung der kalorienarmen Getränke eingestellt wurde. Eine aktuelle Studie der Freien Universität Amsterdam kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Sie verglich die Gewichtszunahme bei vier- bis elfjährigen Kindern, die in zwei Gruppen aufgeteilt täglich entweder eine kleine Menge von einem gezuckerten oder einem kalorienfreien Getränk erhielten. Die zuckerfreie Gruppe legte in 18 Monaten durchschnittlich 6,95 Kilo zu, die andere 8,1 Kilogramm.
Steuern auf Fett, Zucker & Co.
Nicht umsonst stehen inzwischen vermehrt Steuern auf Junk-Food, Zucker oder Fett bei gleichzeitiger Subventionierung von Obst und Gemüse zur Debatte. Sie könnten nicht nur das Konsum- und Ernährungsverhalten der Menschen beeinflussen, sondern auch zusätzlich Mittel für den Gesundheitsbereich lukrieren. Gleichzeitig geraten dadurch Wirtschaft und Handel unter Druck, gesündere Produkte anzubieten. „Einige Länder gehen in Europa jetzt diesen Weg“, berichtete Dr. Fidler beim EHFG. Im Vorjahr hat Dänemark eine Steuer für Lebensmittel eingeführt, die mehr als 2,3 Prozent gesättigte Fette enthalten, Finnland eine Steuer auf gezuckerte Getränke und Süßigkeiten, Frankreich eine zusätzliche Besteuerung für Getränke, die Zucker oder Süßstoffe enthalten. Ungarn hat mit der Einführung einer sogenannten „Junk Food-Steuer“ auf Lebensmittel und Getränke mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzanteil für Aufmerksamkeit gesorgt. Auch in Irland und Großbritannien werden Zucker- oder Fettsteuern diskutiert.
Effekte von Preisregulierungen
Regulatorische Eingriffe dieser Art mögen umstritten sein. Ihre Wirksamkeit wurde allerdings in zahlreichen Studien gezeigt. Eine Forschungsgruppe der Universität Oxford berichtete im British Medical Journal (Mai 2012), dass von einer zielgerichteten gesundheitsrelevanten Steuerpolitik auf Nahrungsmittel mindestens jeder Fünfte profitieren würde. Eine vom Forschungsteam analysierte Studie ergab, dass eine Abgabe von 35 Prozent auf zuckerhaltige Getränke (0,34 € oder 0,28 £) in einer Kantine zu einem Verkaufsrückgang von 26 Prozent führte. Eine weitere Studie prognostizierte, dass 20 Prozent Steuer auf zuckerhaltige Getränke in den USA die Prävalenz für Fettleibigkeit um 3,5 Prozent herunterschrauben könnte. Mehrere Studien sagen aus, dass kleine Änderungen in der Ernährung oft große Folgen bezüglich der Risikofaktoren für die gesamte Population haben: Würde in Großbritannien eine Mehrwertsteuer in der Höhe von 17,5 Prozent auf ungesunde Nahrungsmittel geschlagen, ließe sich die Inzidenz bei ischmäischer Herzkrankheit um ein bis drei Prozent senken. In Menschenleben ausgedrückt sind das 900 bis 2.700 Todesfälle pro Jahr weniger.
Steuern auf ungesunde Speisen und Getränke allein reichen zwar nicht aus, um die multifaktoriellen Ursachen für Fettleibigkeit zu bekämpfen. Nicht zuletzt bringen sie aber einen Teil der Mittel für Prävention auf. Allein in Frankreich sollen über eine geringfügige Zuckersteuer von zwei Cent auf 33 cl Limonade 280 Millionen Euro pro Jahr lukriert werden – und direkt in die Kriegskasse für den weiteren Kampf gegen Fettleibigkeit fließen, auch in Zeiten der Krise.
Das EHFG ist der wichtigste gesundheitspolitische Kongress der Europäischen Union, mehr als 600 Entscheidungsträger aus 45 Ländern diskutieren vom 3. bis 6. Oktober 2012 bereits zum 15. Mal zentrale Zukunftsthemen der europäischen Gesundheitssysteme.
Fotos zum diesjährigen European Health Forum Gastein finden Sie unter http://www.ehfg.org/940.html.
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