EHFG 2012: Krisen sind „windows of opportunity“ für Gesundheitsreformen

Wirtschaftskrisen und Rezessionen wirken sich auf Gesundheitssysteme völlig unterschiedlich aus: Während sie in weniger entwickelten Ländern erreichte Fortschritte massiv gefährden, können sie in Industriestaaten auch ein Motor dafür sein, dass verkrustete Strukturen aufbrechen und Neues entsteht, betonten Experten/-innen beim European Health Forum Gastein. Nachhaltige Reformen sind allerdings nur dann möglich, wenn dazu schon Konzepte vorbereitet sind.

Bad Hofgastein, 5. Oktober 2012 – Wirtschaftskrisen können durchaus positive Impulse für das Gesundheitssystem liefern – zumindest in hochentwickelten Ländern. „Das Gesundheitswesen stabilisiert die Wirtschaft in Krisenzeiten, sofern es ausreichend Reserven und Effizienzpotenziale besitzt. Umgekehrt bringt der Kostendruck in Zeiten der Rezession mitunter sogar die Chance, Reformen im Gesundheitssektor zu beschleunigen“, sagte Dr. Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien (IHS), Wien, auf dem European Health Forum Gastein (EHFG).

Meist ändert sich in Industriestaaten die Gesundheitsversorgung und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen durch Krisen nicht sonderlich: Die Nachfrage nach Dienstleistungen des Sektors hängt nicht von der Konjunktur ab, womit der Wirtschaftsfaktor Gesundheit sogar ausgleichend auf die Turbulenzen wirken kann. Die OECD belegte dies 2010 in einem Arbeitspapier: „In Ländern, in denen das BIP fällt, steigt der BIP-Anteil der Gesundheitsausgaben in der Regel“, berichtete der Experte für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik beim EHFG.

Beschleunigung des Reformdrucks

Der Kostendruck, den wirtschaftliche Krisen mit sich bringen, kann das Gesundheitssystem sogar durchaus auch positiv verändern, wie Dr. Czypionka betonte. „In vielen entwickelten Ländern gibt es historisch gewachsene Strukturen, die tiefergehender Reformen bedürfen, aber durch politische Widerstände verhindert werden. Krisen können – müssen aber nicht – ein Antrieb für diesen Wandel sein. Denn sie lassen Bedarf und Finanzierung kurzfristig so stark auseinanderklaffen, wie dies andernfalls erst Jahre später eintreten würde.“

Dr. Czypionka sieht Krisen somit als ein „window of opportunity“, das sich jedoch mit einer Besserung der Wirtschaftslage rasch wieder schließt: „Der Druck wird geringer, zudem kosten dann tiefere Umstellungen verhältnismäßig mehr politisches Kapital.“ Nutzen lässt sich dieses Phänomen freilich nur dann, wenn schon vor der Krise ernsthafte Konzepte für Reformen entwickelt wurden, die bei Bedarf mehr oder weniger schnell umgesetzt werden können.

Aktuelle Krise hinterlässt bleibende Folgen

Differenziert von diesen generellen Trends sieht der Experte allerdings die aktuelle Wirtschaftskrise in Europa. Dr. Czypionka: „Ihre Wirkungen dürften nachhaltiger sein als jene früherer Krisen, da nicht bloß Banken, sondern Staaten und im Falle der EU sogar die ganze Gemeinschaft in den Sog gerissen wurden. Eine genaue Bezifferung dieser Effekte ist jedoch schwer.“

Die Art dieser Effekte ist bisher sehr unterschiedlich, stellt das „Health Evidence Network“ der WHO dazu fest: Teils konnten die Länder auf Reserven zurückgreifen und somit etwa den Zugang zu Dienstleistungen für Menschen des Niedriglohnsektors ausbauen oder ihr System effizienter gestalten.

Viele andere europäische Länder waren jedoch viel weniger gut vorbereitet, reagierten bloß mit Kürzungen, gaben in Gang gesetzte Reformen sogar auf oder erhöhten die Belastung des Einzelnen bei der Inanspruchnahme von Basisdiensten, was etwa die Kosten oder die Wartezeiten betrifft. „Zu befürchten ist, dass man die Folgen noch über viele Jahre spüren wird – am stärksten möglicherweise dann, wenn die demographische Entwicklung mit ihren Belastungen für Gesundheits- und Sozialsysteme am meisten durchschlägt“, erklärte Dr. Czypionka.

Gefährlich für weniger entwickelte Länder

Allerdings gilt die Einschätzung nicht für die globale Situation. „In weniger entwickelten Ländern wirken sich Krisen in der Regel viel ungünstiger als in Industrieländern aus. Wo Gesundheitssysteme erst in der Phase der Entwicklung sind, verbessern ihre Fortschritte die Lebensqualität und Verteilungsgerechtigkeit in der Bevölkerung meist deutlich. Beides verschlechtert sich durch Krisen auf sehr direkte Weise, wobei Erfolge und Errungenschaften der Reformen rückgängig oder gar zunichte gemacht werden können“, so der Experte.

Aktuelle Zahlen dazu liefern Forscher um Christopher J.L. Murray in der Zeitschrift “Health Affairs”: Die Steigerung der Entwicklungshilfe für Gesundheitsprojekte verläuft seit 2009 stark gebremst, da mit dem Sinken der Beiträge der Geberländer auch die Finanzierungszusagen seitens vieler UN-Einrichtungen oder des Global Fund gegen AIDS, Tuberkulose und Malaria stagnierten. Dass es insgesamt überhaupt noch ein Wachstum von rund vier Prozent jährlich gab, geht hauptsächlich auf die Weltbank zurück, die mit einem Förderplus scheinbar bewusst auf die globale Wirtschaftskrise reagiert hat.

Wo Krisen plötzliche Einschnitte bei öffentlichen Mitteln für Gesundheit bringen, kann dies laut der WHO-Analyse die Versorgung der Bevölkerung aufs Spiel setzen. Erschwerend dazu kommen erzwungene Kürzungen – denkbar ungünstig – genau dann, wenn eine Gesellschaft mehr statt weniger Ressourcen braucht, um mit gesundheitlichen Folgen etwa von Arbeitslosigkeit zurecht zu kommen. Gefahr einer Destabilisierung besteht vor allem dort, wo diese Kürzungen an der finanziellen Basis der wichtigsten Dienstleistungen rütteln.

Das EHFG ist der wichtigste gesundheitspolitische Kongress der Europäischen Union, mehr als 600 Entscheidungsträger aus 45 Ländern diskutieren vom 3. bis 6. Oktober 2012 bereits zum 15. Mal zentrale Zukunftsthemen der europäischen Gesundheitssysteme.

Fotos zum diesjährigen European Health Forum Gastein finden Sie unter http://www.ehfg.org/940.html.

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