Kostendruck, Management- und Marktstrategien sorgen im Gesundheitswesen
dafür, dass sich Fachdisziplinen immer weiter spezialisieren und segmentiert
werden. Für das wachsende Problem der Mehrfacherkrankungen ist das eine
Sackgasse: Die Versorgung wird teurer, Fachkräfte fehlen, und Probleme der
Patienten/-innen bleiben außer Acht, warnten Experten/-innen beim European
Health Forum Gastein. Eine Lösung soll eine Neuausrichtung der Gesundheitsberufe
bieten.
Bad Hofgastein, 3. Oktober 2012 – Gesundheitssysteme
brauchen keine weitere Spezialisierung des Fachpersonals, sondern eine neue
Ausrichtung der Gesundheitsberufe. Einen Ansatz dafür präsentierte Dr. Thomas
Plochg, Assistenzprofessor für Public Health im Academic Medical Center der
Universität Amsterdam, heute auf dem European Health Forum Gastein (EHFG).
„Immer mehr und bessere Gesundheitsleistungen mit immer weniger personellen und
finanziellen Ressourcen zu erbringen gehört zu den großen Herausforderungen der
modernen Gesundheitssysteme. Im Kern geht es darum, Gesundheitsberufe durch eine
neue Denkweise umzugestalten“, betonte der Forscher. Seine Studienergebnisse
werden demnächst veröffentlicht.
Ausgerechnet der medizinische Fortschritt hat neue Probleme geschaffen: Durch
das bessere Management von Krankheiten leben Menschen länger, doch baut ihr
Körper infolge biologischer Prozesse sowie durch Stressfaktoren der heutigen
Lebenswelt weiter ab. Akute Krankheiten werden seltener, doch chronische Leiden
nehmen zu. Letztere machen laut Epidemiologen/-innen 80 Prozent der gesamten
Krankheitslast aus, wobei bereits 50 Prozent dieser Last in den meisten
OECD-Ländern auf das gleichzeitige Auftreten mehrerer chronischer Krankheiten –
die sogenannte Multimorbidität – zurückgehen.
Spezialisierung bei Mehrfacherkrankungen falscher Weg
Bisher liefere die laufende Modernisierung der Gesundheitsversorgung kaum
Antworten auf diese neue Ausgangslage, so Dr. Plochg: „Man konzentriert sich auf
Innovation in den Bereichen Wissen, Technik und Strukturen. Die Entwicklung der
fachlichen Akteure/-innen – Kardiologen/-innen, Chirurgen/-innen oder
Sozialmediziner/-innen etwa – oder die professionellen Organisationsformen ihrer
Arbeit ignoriert man dabei oder setzt ihre Existenz und ständige Anpassung an
die neuen Umstände einfach voraus.“ Dieser Wandel führe derzeit zunehmend zu
Fragmentierung und Über-Spezialisierung.
Sowohl die Fragmentierung als auch die Spezialisierung können akute
Einzelkrankheiten hervorragend bekämpfen, seien angesichts der Zunahme der
Multimorbidität aber weniger relevant, so der Experte. Sie lassen betroffene
Patienten/-innen für jedes Problem einen eigenen Spezialisten aufsuchen, womit
in Folge jene Angehörigen der Gesundheitsberufe fehlen, die wie
Allgemeinmediziner/-innen Überblick in Diagnose und Behandlung bewahren und
Patienten/-innen durch das System navigieren können. Dr. Plochg: „Das verursacht
überschüssige Kosten, eine Übernutzung der Dienste sowie Engpässe bei Qualität
und Sicherheit.“
Radikales Umdenken nötig
„Das gängige Experten/-innenmodell, das den Bedürfnissen der
Gesundheitsversorgung nicht mehr gerecht wird, braucht eine Neukonfiguration,
denn die Zukunft gehört Ärzten/-innen und Pflegepersonen, die auf
Multimorbidität spezialisiert sind. Drei neue Denkweisen sind dazu nötig“,
forderte der Wissenschaftler, allen voran jene der nachhaltigen Gesundheit der
Bevölkerung. „Der bisherige Ansatz einzelner heilbarer Krankheiten ist oft nicht
mehr zielführend, da Multimorbidität ein zu komplexes Zusammenspiel von Genetik,
Lebensstil, Sozioökonomie und Umwelt darstellt, als dass man sie heilen könnte.
Wichtig ist deshalb die Prävention und Gesundheitsförderung, die beide nicht nur
die Aufgaben spezieller Berufe oder Institute bleiben dürfen, sondern bei allen
in der Branche in Fleisch und Blut übergehen müssen.“
Als künftige Schlüsselkompetenz Nummer Zwei bezeichnete Dr. Plochg das
Systemdenken in Diagnose und Behandlung. „Komplexe Gesundheitsprobleme kann man
nur dann managen, wenn statt dem einzelnen Körperorgan das gesamte System Körper
und dessen Wechselspiele im Vordergrund stehen.“ Die dritte Neuerung fordert von
Ärzten/-innen, sich nicht als unabhängige Solisten zu verstehen und ihre
Kompetenz nicht allein durch die Ausbildung zu begründen: Ständiger Kontakt zu
anderen Berufen, Stakeholdern und vor allem den Klienten/-innen und
Patienten/-innen soll garantieren, dass ihre Expertise funktionell bleibt.
Politik muss Wandel unterstützen
Die Gesundheitsberufe sollten sich somit selbst regulieren, um bessere
Antworten auf die Multimorbidität und deren Herausforderungen geben zu können.
Dr. Plochg bezeichnete es als Aufgabe der Gesundheitspolitik, diesen Prozess
anzuregen und zu fördern. „Patentrezepte oder schnelle Erfolge gibt es hier
nicht. Immerhin wurden jedoch bisher bereits wirksame Strategien ausgearbeitet,
die von finanziellen Anreizen und Leistungsfeststellungen bis hin zur Planung
der Arbeitsstellen im Gesundheitsbereich reichen.“
Zwar müsse die Formung dieses Wandels auf nationaler Ebene stattfinden, doch
auch die EU könne unterstützend eingreifen. „Etwa die R&D-Agenda für
Gesundheitsversorgung ist ein gutes Instrument, um mehr systembasiertes Wissen
zu schaffen sowie auch Technologien, die die Entwicklung hin zu
Multimorbiditäts-bewandten Gesundheitsberufen im 21. Jahrhundert legitimieren
und unterstützen“, so der niederländische Experte.
Das EHFG ist der wichtigste gesundheitspolitische Kongress der Europäischen
Union, mehr als 600 Entscheidungsträger aus 45 Ländern diskutieren vom 3. bis 6.
Oktober 2012 bereits zum 15. Mal zentrale Zukunftsthemen der europäischen
Gesundheitssysteme.
Fotos zum diesjährigen European Health Forum Gastein finden Sie unter http://www.ehfg.org/940.html.
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