Das biologische Altern zu verlangsamen, sollte das Gesundheitsparadigma
des 21. Jahrhunderts werden, betonte US-Experte Prof. Jay Olshansky beim
European Health Forum Gastein. Es sei durchaus realistisch, mithilfe der
Erkenntnisse der Biogerontologie sieben gesunde Jahre dazuzugewinnen und Folgen
des demografischen Wandels wie vermehrte Pflegebedürftigkeit abzufedern.
Zweckgebundene Budgets für entsprechende Maßnahmen würden sich rechnen.
Bad Hofgastein, 4. Oktober 2012 – Nicht die Zahl der
gelebten Jahre entscheidet, wie alt wir sind, sondern unsere körperliche
Verfassung. „Maßnahmen, die den biologischen Prozess des Alterns verzögern
können, sollte höchste Priorität eingeräumt werden. Das biologische Alter zu
verlangsamen, muss zum Gesundheitsparadigma des 21. Jahrhunderts werden“,
forderte Prof. Jay Olshansky von der School of Public Health der Universität
Illinois (Chicago) heute beim European Health Forum Gastein (EHFG). Der
US-Forscher schlug eine neue Strategie vor, um den möglichen negativen Folgen
der ständig steigenden Lebenserwartung – wie höhere Kosten durch vermehrte
Pflegebedürftigkeit – wirksam zu begegnen: „Wir müssen herausfinden, warum es zu
den biologischen Veränderungen kommt, die im Alter unsere Gesundheit
beeinträchtigen, und dann gezielt intervenieren. Das wäre sicher zielführender,
als, wie es jetzt üblich ist, altersbedingte Krankheiten und Behinderungen
einzeln anzugehen, als hätten sie keine gemeinsame Ursache.“
Biogerontologen suchen Bremse für den Alterungsprozess
Aktuelle Erkenntnisse der sogenannten „Biogerontologie“, einer Disziplin zur
Erforschung der menschlichen Alterung, zeigen, dass sich Alterungsprozesse sich
tatsächlich verzögern lassen. Neuere Forschungen im Bereich Genetik und
vergleichender Biologie bestätigten die großen Analogien beim Alterungsprozess
von Tier und Mensch. Das liefert entscheidende Hinweise auf der Suche nach
Interventionen, die das Altern verzögern können. „Biogerontolog/-innen können
inzwischen viel mehr, als nur das Altern von Zellen, den Zelltod, die Rolle
freier Radikale oder von Telomerverkürzung zu beschreiben. Sie sind in der Lage,
die molekularen Grundlagen und Zellfunktionen zu beeinflussen. Diese jüngsten
wissenschaftlichen Durchbrüche haben absolut nichts mit den Versprechungen von
Geschäftemachern zu tun, die Anti-Ageing-Produkte anpreisen. Es gibt bislang
keine überprüften Therapien oder Produkte, die das Altern verlangsamen, stoppen
oder gar rückgängig machen können“, betonte Prof. Olshansky.
Länger leben in Gesundheit
Was es hingegen gibt, ist eine Vielzahl neuer Erkenntnisse: Erwiesen ist
inzwischen etwa, dass Altern kein unveränderlicher, von der Evolution
vorprogrammierter Prozess ist, wie lange angenommen wurde. Das Wissen darüber,
wie, warum und wann die Alterungsprozesse stattfinden, hat sich in den
vergangenen Jahrzehnten vervielfacht. Viele Wissenschaftler/-innen gehen davon
aus, dass heute lebende Menschen noch von den Erkenntnissen dieses
Forschungszweigs profitieren können, sofern er ausreichend gefördert wird. „Die
Altersforschung hat das Potenzial zu bewirken, wozu kein Medikament, kein
chirurgischer Eingriff und keine Lebensstiländerung imstande ist: Mehr
Lebensjahre bei guter Gesundheit zu erreichen und kostspielige Krankheiten und
Behinderungen, die das Altern mit sich bringen, hinauszuschieben“, so Prof.
Olshansky.
Gesundheitsökonomischer Nutzen
Das Bündel an sozialen, ökonomischen und gesundheitlichen Vorteilen, die sich
dadurch für den/die Einzelne/n und für die Gesellschaft ergeben würden, fasste
der Experte unter dem Begriff „Langlebigkeits-Dividende“ zusammen: „Mehr gesunde
Jahre, das bedeutet auch längere Erwerbstätigkeit, mehr Einkommen und
Ersparnisse, ein geringerer Druck auf Pensionssicherungssysteme sowie geringere
Ausgaben für die Krankenversorgung und Pflege älterer Menschen“, so Prof.
Olshansky.
Sieben gesunde Jahre mehr
Die Voraussetzung für eine Verlangsamung des Alterns seien bereits heute
gegeben: „Die Erforschung technischer Möglichkeiten, die es erlauben, in die
biologischen Prozesse des Alters einzugreifen, läuft. Wir müssen sicherstellen,
dass die daraus entwickelten Interventionen rasch auf breiter Basis verfügbar
werden“, so Prof. Olshansky beim EHFG. Als realistisches Ziel definiert der
Experte eine bescheidene Verlangsamung des Alterungsprozesses, die ausreichen
würde, um alle altersbedingten Krankheiten und Behinderungen um sieben Jahre
hinauszuzögern: „Das würde größere Vorteile im Gesundheitsbereich bringen als
die Beseitigung aller Krebs- oder Herzkrankheiten.“
Um sieben gesunde Jahre Leben dazuzugewinnen, müsse aber in die entsprechende
Forschung mehr investiert werden. „Verglichen mit den gigantischen Ausgaben, die
bereits in die Gesundheitsversorgung und Pflege Älterer gesteckt werden müssen,
wären Investitionen in die ‚Langlebigkeits-Dividende‘ jedoch bescheiden“, so der
Experte. Da eine länger gesund lebende Bevölkerung deutlich mehr zum Wohlstand
beiträgt, würde sich das Investment auf Dauer sogar selbst finanzieren. Prof.
Olshansky fordert, einen Teil der öffentlichen Gesundheitsbudgets für diesen
Zweig der Forschung zweckzubinden.
Kostendruck durch altersbedingte Krankheiten
Dass neue Wege bei der Bewältigung des demografischen Wandels beschritten
werden müssen, liege auf der Hand, rechnete Prof. Olshansky am Beispiel
demenzieller Erkrankungen vor: „Die Zahl der von Alzheimer betroffenen
US-Bürger/-innen wird von vier Millionen heute auf 16 Millionen bis 2050
ansteigen. Das heißt, es wird mehr Demenzkranke in den USA geben als Australien
Einwohner/-innen hat“. Weltweit wird die Zahl der Alzheimer-Patienten/-innen
bis 2050 auf 45 Millionen ansteigen, wobei drei von vier Patienten/-innen in
einem Entwicklungsland und zwölf Millionen in Europa leben werden. Bis 2050
werden in den USA die Kosten für die Behandlung von Alzheimer auf eine Billion
Dollar pro Jahr ansteigen. Neben Alzheimer verschlingen auch andere mit
zunehmendem Alter verstärkt auftretenden Leiden wie kardiovaskuläre
Erkrankungen, Diabetes oder Krebs große Anteile des Gesundheitsbudgets. Die
Anzahl alter Menschen in China und Indien wird bis 2050 die Anzahl der
Gesamtbevölkerung der USA übersteigen.“
Das EHFG ist der wichtigste gesundheitspolitische Kongress der Europäischen
Union, mehr als 600 Entscheidungsträger aus 45 Ländern diskutieren vom 3. bis 6.
Oktober 2012 bereits zum 15. Mal zentrale Zukunftsthemen der europäischen
Gesundheitssysteme.
Fotos zum diesjährigen European Health Forum Gastein finden Sie unter http://www.ehfg.org/940.html.
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