Ältere Menschen sind aus Erfahrung klug – und häufig glücklich. Das zeigt die interdisziplinäre Forschung der Gerontologie. Die Gesellschaft würde davon profitieren, das Potential der Senioren neu zu entdecken und zu pflegen. Um diesen Schatz zu heben, braucht es eine ganz neue Sicht auf das Alter – und deswegen praktische Konsequenzen für die Wohnraum- und Stadtplanung.
Wenn Familie Grundel in den Urlaub fährt, kann sie sich auf ihren Nachbarn verlassen. Herr Pato ist zwar schon 72 Jahre alt, aber sehr zuverlässig. Er gießt die Blumen und leert den Briefkasten. Das beruht auf Gegenseitigkeit: Wenn Grundels einen Großeinkauf machen, kaufen sie für ihn mit ein. Wenn sie nicht gerade in den Urlaub fahren, lassen auch Grundels das Auto meistens stehen: Die Kita für den dreijährigen Tom ist nur 500 Meter entfernt. Die Kinder können sorglos auf der Straße spielen: die ganze Siedlung ist verkehrsberuhigt, die abgesenkten Gehwege kommen kleinen Kindern genauso zu Gute wie den Senioren. Selbst wer nicht mehr alleine aus dem Haus gehen kann, ist in dem Wohnquartier gut aufgehoben: Ein Pflegedienst kümmert sich nach Bedarf um die Bewohner.
Noch ist diese Siedlung, in der sich die junge Familie genauso wohl fühlt wie der betagte Nachbar, Fiktion. Doch sie spiegelt kein Ideal aus der Vergangenheit, sondern den Blick in eine mögliche Zukunft, die in einigen Wohnquartieren Stuttgarts schon sehr konkrete Züge annimmt. Die Soziologin Melanie Schölzke beschäftigt sich mit zukunftsfähigen Wohnformen in einer immer älter werdenden Gesellschaft. Dabei stieß sie auf Wohnungsbaugesellschaften im Stadtteil Bad Cannstatt, die in ihren Planungen die Bedürfnisse älterer Menschen mit dem Netzwerkgedanken verbinden.
Schölzke ist davon begeistert – sieht sie doch in der wachsenden Zahl älterer Menschen die größte Herausforderung und zugleich eine Riesenchance für die Gesellschaft. „Die heutigen Alten nehmen ihr Leben selbst in die Hand und wollen in der Gesellschaft mitmischen“, hat sie festgestellt. „Leider ist es noch nicht genug in den Köpfen drin, dass sich das Erfahrungswissen der Älteren sehr gut mit der Dynamik der Jugend ergänzt“, sagt sie.
Das große Potential älterer Menschen – aber auch, was die Gesellschaft tun muss, um es zu nutzen: das sind auch die Themen am Lehrstuhl von Professor Wolfgang Schlicht. Für den Stuttgarter Sport- und Gesundheitswissenschaftler ist klar, dass die Gerontologie, die in Deutschland vor allem aus medizinisch-biologischer und sozialwissenschaftlicher Sicht auf das Alter blickt, um weitere Perspektiven ergänzt werden muss. Gemeinsam mit Stuttgarter Kolleginnen und Kollegen entwarf er darum den Studiengang „Integrierte Gerontologie“, in dem auch Arbeitswissenschaftler, Ingenieure und Architekten, Stadtplaner neben Sozialwissenschaftlern, Bewegungs- und Wirtschaftswissenschaftlern ihre Perspektive auf das Alter vermitteln. „Wir leben in technischen Umwelten“, sagt Schlicht. „Wenn Mobilität aufrechterhalten werden soll, weil sie für Eigenständigkeit und soziale Kontakte wichtig ist, wird man Technik und Umwelt attraktiv für Alte gestalten müssen.“
Die Auseinandersetzung mit Fragen des Alterns wird durch den demografischen Wandel immer wichtiger. Noch im Jahr 2000 stellten die 38-jährigen die größte Bevölkerungsgruppe, im Jahr 2050 sind es voraussichtlich die 60-jährigen. In einer Gesellschaft, der Jugend über alles geht, haben diese jungen Alten jedoch häufig einen schweren Stand. „40 Prozent der über 59-jährigen müssen aus dem Beruf ausscheiden, weil man sie nicht mehr für leistungsfähig hält“, sagt Schlicht. Damit geht der Gesellschaft ein großes Potential verloren, denn Ältere bringen ganz eigene Stärken ein.
„Die erfahrungsbasierte Intelligenz nimmt bei Alten sogar zu“, so Schlicht. Deshalb sei es unsinnig, ältere Menschen frühzeitig durch jüngere zu ersetzen. Es gehe vielmehr darum, altersangemessene Tätigkeiten zu finden, bei denen die Stärken der Älteren zum Tragen kommen. In mancher Hinsicht haben die Alten sogar einen Vorteil: Im Laufe der Lebensjahre entwickeln die meisten Menschen unbewusste Strategien, um positive Erlebnisse besser zu erinnern als negative. „Das scheint ein Grund dafür zu sein, warum Ältere sich meist wohl fühlen und eine hohe Lebenszufriedenheit haben“, so Schlicht. „Sie kommen besser mit den kleinen Nickligkeiten des Alltags klar.“
Dass sie von der älteren Generation eine Menge lernen kann, hat Melanie Schölzke früh gemerkt. Die heute 40-jährige wuchs bei ihren Großeltern auf. „Da habe ich gemerkt, was sie als 60- und 70-jährige noch leisten können“, sagt sie. Nach einigen Jahren als Redakteurin bei einem Sachbuchverlag hat sie sich deshalb entschlossen, ihrem persönlichen Interesse zu folgen und sich dem Thema Alter aus wissenschaftlicher Sicht zu nähern. Das Potential der Älteren sieht sie als großen Schatz. Sie will dazu beitragen, ihn zu heben.
Ob es um neue Wohnformen geht, Stadtplanung oder die Haltung der Gesellschaft gegenüber Älteren – sie ist fest überzeugt, dass sich eine Menge ändern kann und muss. „Es ist das große Thema der Zeit – deshalb erhoffe ich mir auch berufliche Möglichkeiten davon.“ Überzeugt hat sie letztlich der interdisziplinäre Ansatz der Integrierten Gerontologie – auch, weil sie das Online-Studium parallel zu ihrem Beruf als Redakteurin verfolgen konnte.
Bei ihren Studien hat Schölzke festgestellt, dass viele Einsichten der Integrierten Gerontologie noch nicht in den Büros der Stadtplaner, Politiker und Arbeitgeber angekommen sind. Häufig stehen die Themen Bildung und Familien weiter oben auf der Liste. Die Wohnungsbaugesellschaften gehen voran, weil es für sie eine wirtschaftliche Notwendigkeit ist. „Die wollen am liebsten, dass die Leute 50 Jahre lang bei ihnen wohnen bleiben, weil mit jedem Wechsel Kosten verbunden sind“, so Schölzke.
In Bad Cannstatt wird die Zahl der über 65-jährigen in den nächsten zwanzig Jahren um 24 Prozent steigen – und damit eine zentrale Zielgruppe der Vermieter werden. Damit gewinnt auch das Handlungsfeld der Integrierten Gerontologen an Bedeutung. So kommt es zu baulichen Besonderheiten wie Sichtachsen zwischen Wohnungen, abgesenkten Bordsteinen und Treffpunkten auf Plätzen. Genauso wichtig sind gegenseitige Hilfen und Ansprechpartner für Pflegebedürftige. Aber auch regelmäßige Treffen zum Mittagessen und Kaffeetrinken schaffen Gemeinschaft – und die genießen alle, Jung und Alt. Das hat Zukunft.
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Der Studiengang Integrierte Gerontologie an der Universität Stuttgart verbindet gerontologische Fragestellungen mit ingenieur-, sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Inhalten und macht Sie zu Änderungsmanagern/innen des demographischen Wandels. Werden Sie auf der Basis Ihres Studiums der Architektur, Ingenieur-, Sozial-, oder Sportwissenschaften, im Gesundheitswesen oder der Verwaltung zu Experten/innen fu?r Fragen des gelingenden Alterns und Alters. Mit dem erworbenen interdisziplinären Wissen aus der Altersforschung können Sie fundierte Konzepte in einem enorm wachsenden und zukunftsweisenden Berufsfeld entwickeln.
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