Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Arbeitszeiterfassung

Das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG § 3 Abs. 2 Nr. 1) verpflichtet den Arbeitgeber, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen. Der Gesetzgeber kann Ausnahmen auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 Richtlinie 2003/88/EG vorsehen. Bei der Entscheidung, ob ein Arbeitszeiterfassungssystem eingeführt werden soll, hat der Betriebsrat kein Mitbestimmungsrecht (einschließlich Initiativrecht), wohl aber bei dessen Ausgestaltung.
(BAG, Beschluss vom 13.09.2022 – 1 ABR 22/21 -;
Leitsatz der Verfasserin)

Die Arbeitgeberinnen (AG) – Betreiberinnen eines Gemeinschaftsbetriebs – und der Betriebsrat (BR) verhandelten über die Einführung eines Systems zur elektronischen Arbeitszeiterfassung. Als die AG entschieden, kein elektronisches Zeiterfassungssystem einzuführen, setzte das Arbeitsgericht auf Antrag des BR eine Einigungsstelle ein, deren Zuständigkeit die AG rügten. Im daraufhin vom BR eingeleiteten Beschlussverfahren machte dieser geltend, er habe hinsichtlich der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung ein Initiativrecht. Vor dem BAG hatte sein Antrag zwar keinen Erfolg. Der Sieg der AG ist aber ein Pyrrhussieg, denn diese sind, so das BAG, bereits auf gesetzlicher Grundlage verpflichtet, in ihrem Betrieb ein Zeiterfassungssystem einzuführen.
Die europäische Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG regelt u.a. bestimmte Mindestruhezeiten und eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden. Bereits am 14.05.2019 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass die EU-Mitgliedstaaten gegen die Arbeitszeitrichtlinie verstoßen, wenn das nationale Recht keine Verpflichtung der AG zur Arbeitszeiterfassung vorsieht. Eine Zeiterfassung sei erforderlich, damit die Regelungen über die Mindestruhezeiten und die Höchstarbeitszeit den Beschäftigten auch tatsächlich zugutekommen und ihre Einhaltung kontrolliert werden kann.
Trotz dieser klaren Entscheidung kam es in Deutschland bisher nicht zu einer gesetzlichen Neuregelung der Zeiterfassungspflicht. Eine allgemeine Regelung über die Aufzeichnung der Arbeitszeit enthält § 16 Abs. 2 S. 1 Arbeitszeitgesetz (ArbZG). Diese Bestimmung sieht aber nur die Erfassung von Mehrarbeit (mehr als 8 Stunden täglich bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von Montag bis Samstag) vor. Daneben ist für bestimmte Bereiche, etwa im Straßentransport (§ 21 a Abs. 7 ArbZG) oder für bestimmte Leiharbeitnehmer (§ 17 a Abs. 1 AÜG), die Aufzeichnung der gesamten Arbeitszeit vorgeschrieben.
Wie die Bestimmungen des ArbZG dienen auch die des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer. Zu den Grundpflichten der AG gehören nach § 3 Abs. 1 S. 1 ArbSchG, dass sie die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu treffen haben. Dazu müssen sie nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG für eine geeignete Organisation sorgen und die erforderlichen Mittel bereitstellen. Aus diesen Regelungen hat das BAG im Wege richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts, zu der die nationalen Gerichte europarechtlich verpflichtet sind, gefolgert, dass die AG die Arbeitszeit erfassen müssen. Der Wortlaut der Norm („erforderliche Maßnahmen des Arbeitsschutzes, geeignete Organisation“) sei so weit gefasst, dass sie ein System der Arbeitszeiterfassung einschließt und damit eine richtlinienkonforme Auslegung möglich ist.
Damit ist nunmehr höchstrichterlich entschieden, dass in Deutschland – bereits jetzt – eine allgemeine gesetzliche Verpflichtung für Arbeitgeber besteht, ein System zur Erfassung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit (damit auch der Dauer) einzuführen. Ausnahmen können durch Gesetz nach Maßgabe des Art. 17 Abs. 1 Arbeitszeitrichtlinie vorgesehen werden.
Für die Mitbestimmung des BR folgt daraus: Nach § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG sperrt eine gesetzliche Regelung das Mitbestimmungsrecht (einschließlich Initiativrecht). Da § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG für die Einführung einer Arbeitszeiterfassung („ob“) eine gesetzliche Regelung enthält, hat der BR insoweit kein Mitbestimmungsrecht.
Eine andere Frage ist, wie das System der Arbeitszeiterfassung konkret ausgestaltet wird und ob der BR bei der Ausgestaltung ein Mitbestimmungsrecht hat. Nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG hat der BR über den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften mitzubestimmen (einschließlich Initiativrecht). Bei § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG handelt es sich um eine solche gesetzliche Rahmenvorschrift, die der Ausfüllung bedarf. Nach der Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019 haben die EU-Mitgliedstaaten Spielraum bei der Festlegung der Einzelheiten der Arbeitszeiterfassung. Eine gesetzliche Regelung dazu gibt es in Deutschland aber (noch) nicht. In Bezug auf die Ausgestaltung des Systems der Arbeitszeiterfassung sperrt § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG das Mitbestimmungsrecht des BR daher (noch) nicht.
Erst wenn und soweit der Gesetzgeber nähere Einzelheiten zur Frage der Ausgestaltung regelt, hat das Mitbestimmungsrecht des BR zurückzutreten.
Soll die Arbeitszeiterfassung durch technische Einrichtungen erfolgen, hat der Betriebsrat zudem diesbezüglich ein Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG bei der Ausgestaltung.

Fazit:
Endlich wird in Deutschland durch eine höchstrichterliche Entscheidung der andauernden Missachtung europäischen Arbeitszeitrechts ein Ende bereitet. Viele Fragen sind noch ungeklärt, etwa unter welchen Voraussetzungen eine Aufzeichnung in Papierform ausreicht. Das Bundesarbeitsministerium hat angekündigt, es wolle einen Gesetzesentwurf vorlegen. Arbeitgeberverbände haben erklärt, sie wollten das Gesetz abwarten. Tatsächlich ist aber die Verpflichtung der AG zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems schon jetzt geltendes Recht. Die Überwachung obliegt den zuständigen Behörden (§ 21 ArbSchG). BR sollten sich daher nicht wegen noch ausstehender gesetzlicher Regelungen davon abhalten lassen, von ihrem Mitbestimmungs- und Initiativrecht Gebrauch zu machen. Praktische Relevanz hat die Entscheidung des BAG u.a. für die Vertrauensarbeitszeit. Im Koalitionsvertrag der Ampel wurde vereinbart, dass flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein müssen. Ein Verzicht auf die zeitliche Erfassung der Arbeitszeit ist jedoch nicht zulässig. Eine andere Frage ist, ob die Aufzeichnung der betreffenden Zeiten auf die Arbeitnehmer delegiert werden kann. Dazu weist das BAG in seiner Entscheidung darauf hin, dass die unionsrechtlichen Maßgaben die Delegation an die Arbeitnehmer nicht ausschließen. Bei der Arbeitszeitrichtlinie handelt es sich um eine Regelung des Arbeitsschutzes. Die Entscheidung des BAG hat aber auch Auswirkungen auf Rechtsstreitigkeiten über die Vergütung des Arbeitnehmers, weil die Erfassung der Arbeitszeit es dem Arbeitnehmer erleichtert, nachzuweisen, dass er Überstunden geleistet hat.

Ingrid Heinlein, Rechtsanwältin
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