Typische Ausreden: Flugscham, „Fridays for Future“ oder Veganismus sind doch alles Trends, die bald wieder verschwinden. Neues Buch „Im Wandel der Zeit“ gibt Antworten und Denkanstöße
Scheitert der Klimaschutz an unserer Bequemlichkeit?
In den 1960er Jahren gab es noch keine Greta Thunberg. Die schwedische Schülerin hat erst seit 2018 jeden Freitag vor dem schwedischen Parlament für den Klimaschutz gestreikt und mit „Fridays for Future“ eine weltweite Bewegung zum Schutz des Klimas ausgelöst.
In den 1960er Jahren rückte das Thema Klimawandel erst langsam in das öffentliche Bewusstsein. 1968 wurde in Rom der „Club of Rome“ gegründet, ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern, Wirtschaftsführern und Politikern aus mehr als 53 Ländern. 1972 veröffentlichte der Club of Rome seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ und warnte darin vor einem ökologischen Niedergang, wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält.
Die Geschichte der Weltklimakonferenzen begann erst zwanzig Jahre später. Auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 einigten sich 154 Staaten, die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre auf ein Niveau zu stabilisieren, das eine von Menschen verursachte „gefährliche Störung“ des Klimasystems verhindert. Konkrete Ziele und Maßnahmen wurden in der Konvention damals allerdings noch nicht festgelegt.
Ein weiterer Meilenstein war das „Kyoto-Protokoll“, das 1997 verabschiedet wurde, aber erst 2005 in Kraft trat und 2012 endete. Darin verpflichteten sich fast alle Industriestaaten erstmals rechtsverbindlich zur Reduzierung der Treibhausgase. Diese sollten bis 2012 um rund 5 Prozent im Vergleich zu 1990 sinken.
Am 12. Dezember 2015 beschloss die Weltgemeinschaft das Pariser Klimaabkommen als Nachfolgedokument des Kyoto-Protokolls. Darin wurde vereinbart, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen, möglichst sogar auf unter 1,5 Grad.
Nach dem langen und beschwerlichen Weg der Weltklimakonferenzen konnte nun im November 2021 bei der 26. Weltklimakonferenz in Glasgow erstmals erreicht werden, dass sich alle 197 beteiligten Staaten auf eine beschleunigte globale Energiewende weg von der Kohle und auf den Abbau von Subventionen für fossile Energien (Öl, Kohle, Gas) geeinigt haben, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Künftig soll weltweit jährlich und nicht nur alle fünf Jahre überprüft werden, wie groß die Lücke zum 1,5 Grad-Ziel noch ist. Deutschland will schon 2045 klimaneutral werden und bis 2030 den Treibhausgasausstoß um mindestens 65 Prozent senken.
Wie die Geschichte der Weltklimakonferenzen zeigt, ist zwar bisher viel erreicht worden, aber dennoch bleiben viele Fragen und Probleme offen. Im globalen Maßstab befinden wir uns immer noch in der größten Kohle-Renaissance der Industriegeschichte. Allein in China sind 200 neue Kohlekraftwerke im Bau. Für viele gilt die 1,5 Grad-Begrenzung als nicht mehr realisierbare Zielmarke. Ohne weitergehende Veränderungen nähern wir uns eher einer Erhöhung um 3 Grad und mehr.
Schon jetzt sind die Folgen des Klimawandels deutlich zu spüren. Experten sind sich sicher, dass durch die Erderwärmung Extremwetterereignisse wie Dürre, Hitze, Starkregen, Stürme, Überschwemmungen und sogar Tornados zunehmen werden. Die Zerstörungen solcher Wetterextreme können enorm sein. Menschen sterben, verlieren ihr Hab und Gut oder ihre Heimat. Der wirtschaftliche Schaden ist immens. Bei der Hochwasserkatastrophe Mitte Juli 2021 in Deutschland starben mehr als 180 Menschen. Die Flut verursachte zudem Sachschäden in Milliardenhöhe.
Natürlich muss die Politik die entscheidenden Beiträge zum Klimaschutz leisten. Dies gilt zum Beispiel für die Bereiche Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude, Verkehr oder Landwirtschaft. Aber auch jede und jeder Einzelne muss zum Klimaschutz beitragen. Viele Stellschrauben für Treibhausgase kann der Einzelne zwar nicht beeinflussen. Trotzdem kann jeder seinen CO2–Rucksack durch sein Konsumverhalten im Alltag verringern.
Das Institut der deutschen Wirtschaft hat berechnet, dass sich schon durch kleinere Veränderungen des Konsumverhaltens in Deutschland im Jahr rund 33 Millionen Tonnen Treibhausgase einsparen ließen. Dies belegt das Institut der deutschen Wirtschaft mit den nachfolgenden vier Beispielen:
Lebensmittelabfälle: Jedes Jahr landen in Deutschland zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll, 50 Prozent davon allein bei Privathaushalten. Von den Haushaltsabfällen ist knapp die Hälfte Obst und Gemüse – die meist aufwendig angebaut wurden. Mit den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen hat Deutschland 2015 eine Halbierung der Abfälle beschlossen.
Wenn jeder Bundesbürger jene 75 Kilo Lebensmittelabfälle, die durchschnittlich pro Jahr und Kopf anfallen, durch bessere Planung und Abfallvermeidung um die Hälfte reduziert, würden pro Person jährlich 74 Kilo weniger Treibhausgasemissionen verursacht. Und wenn dies allen Einwohnern in Deutschland gelänge, könnten weltweit mehr als sechs Millionen Tonnen CO2-Äquivalente eingespart werden. Zum Vergleich: Der innerdeutsche Flugverkehr hat 2019 etwa zwei Millionen Tonnen an Kohlendioxid verursacht.
Emissionsarme Proteinquellen: Im Ernährungs-mix sind vor allem importierte Lebensmittel und Fleisch emissionsintensiv. Ein Kilogramm Rindfleisch verursacht rund 30 Kilo CO2-Äquivalente, bei Schweinefleisch und Geflügel sind es jeweils vier Kilo. Für pflanzliche Ersatzprodukte liegt der Wert niedriger: Bei derselben Menge Soja beispielsweise entstehen nur knapp 1,2 Kilo Treibhausgase.
Jeder Deutsche verzehrte 2020 im Schnitt rund 57 Kilo Fleisch, das umgerechnet etwa 630 Kilo CO2-Äquivalente bedeutet. Wenn der Fleischverzehr um 20 Prozent sinkt – die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt mit minus 50 bis 75 Prozent deutlich mehr – und durch pflanzliche Produkte ersetzt wird, würde jede Person rund 120 Kilo Emissionen weniger pro Jahr verursachen. Auf die deutsche Bevölkerung gerechnet wären so Emissionsminderungen von knapp zehn Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten möglich.
Kleidung: Im Durchschnitt kauft jeder Deutsche 56 Kleidungsstücke im Jahr, die in der Herstellung insgesamt rund 680 Kilo CO2-Äquivalente verursachen. Schätzungsweise ein Fünftel der neuen Garderobe wird gar nicht oder kaum getragen. Vor allem Saisonartikel landen schnell im Müll oder in der Altkleidersammlung.
Würden die Verbraucher hierzulande jährlich 20 Prozent weniger in neue Kleidung investieren – das entspricht elf Kleidungsstücken – und stattdessen Secondhandware kaufen, könnte jeder circa 140 Kilo Treibhausgase einsparen. Wenn das alle machen, könnten die Deutschen jährlich mehr als elf Millionen Tonnen CO2-Äquivalente einsparen.
Mobilität: Bahn statt Flugzeug: Der gesamte deutsche Flugverkehr verursachte vor der Corona-Krise jährlich etwa 31,2 Millionen Tonnen Kohlendioxid. Schon einzelne kurze Flugreisen tragen sehr viel dazu bei: Auf beliebten Strecken wie Berlin-München, Berlin-Köln oder Hamburg-München entstehen auf dem Hin- und Rückflug pro Passagier jeweils etwa 310 Kilo CO2. Würde man diese Strecken stattdessen mit der Bahn fahren, könnten je Reise durchschnittlich mehr als 270 Kilo CO2 eingespart werden. Wenn ein Fünftel der deutschen Flugreisen unterlassen oder mit dem Zug absolviert würden, ließen sich jährlich insgesamt etwa 5,6 Millionen Tonnen CO2 einsparen.
Allein durch diese vier Maßnahmen ließen sich nach den Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft im Jahr rund 33 Millionen Tonnen Treibhausgase einsparen. Das ist mehr, als Kroatien innerhalb eines Jahres verursacht.
An Überlegungen und Vorschlägen, wie der Einzelne durch sein individuelles Verhalten zum Klimaschutz beitragen kann, fehlt es keineswegs. Die Umweltorganisation Greenpeace veröffentlicht zum Beispiel „10 Tipps, was Sie für das Klima tun können“: Wer noch weitere Vorschläge sucht, findet 77 Klimaschutz-Tipps von NABU, dem Naturschutzbund Deutschland.
Wir haben also mehr als genug Vorschläge, wie und was wir konkret zum Klimaschutz beitragen könnten. Die entscheidende Frage aber ist, reden wir nur über Klimaschutz oder handeln wir auch? Fahren wir mit dem Fahrrad zum Bäcker oder weiter mit dem Auto? Kaufen wir biologisch angebautes Obst und Gemüse aus der Region, das gerade Saison hat, oder greifen wir zu Produkten, die eingeflogen und aufwändig gekühlt werden müssen?
Energie sparen, weniger Auto fahren, weniger Plastik verwenden: Gute Vorsätze scheitern oft an unserer Bequemlichkeit. Ob Bequemlichkeit, Geiz oder schlicht Gleichgültigkeit: Wir finden immer neue Ausreden, um unsere Gewohnheiten nicht verändern zu müssen. Als Beispiele für typische Ausreden nennt Gerhard Reese, Professor für Umweltpsychologie an der Universität Koblenz-Landau:
-Das Problem liegt im System. Der einzelne Bürger kommt nicht gegen den Klimawandel an, die Politik ist verantwortlich.
-Die EU hat nur einen Anteil von zehn Prozent an den globalen Treibhausgasemissionen, Deutschland sogar nur zwei.
-Verzicht auf Fliegen, Auto fahren, Fleisch essen oder gar E-Mail schreiben: Klimaschutz bedeutet weniger Lebensqualität.
-Bio-Produkte oder nachhaltige Mode sind lukrative Geschäftsmodelle. Der Trend wird ausgenutzt und vermarktet.
-Flugscham, „Fridays for Future“, Veganismus: Das sind doch alles identitätsstiftende Trends, die bald wieder verschwinden.
Zu jeder dieser Ausreden gibt es genügend Gegenargumente, um sie sachlich zu widerlegen. Ausreden bieten uns aber die Gelegenheit, unser Verhalten nicht ändern zu müssen: Ich würde ja gerne auf das Auto verzichten, aber ich muss pendeln; ich würde ja gerne weniger Fleisch essen, aber leider schmeckt es mir doch zu gut; ich würde ja gerne mit dem Zug verreisen, aber das ist einfach zu umständlich.
Ein bisschen klingt das nach dem, was der Soziologe Ulrich Beck in den 1980er Jahren einmal eine „verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre“ genannt hat. Allerdings war das damals auf junge Väter gemünzt, die sich zu wenig im Haushalt betätigten. Aber auch beim Klimaschutz ist es ungeheuer anstrengend, unsere Verhaltensstarre zu überwinden und uns etwas Neues anzugewöhnen.
Ein Hindernis für ein besseres ökologisches Verhalten sind auch die persönlichen Kosten, von denen wir wissen oder annehmen, dass sie uns entstehen, wenn wir umweltverantwortlich handeln. Diese Kosten sind dabei nicht nur monetäre, sondern es geht auch um den Verlust von Gewohnheiten, Erlebnissen, Genuss, Zeit, Status, Komfort etc. Sind diese Kosten zu hoch, schwindet unsere Bereitschaft, sie in Kauf zu nehmen.
Selbst bei Jugendlichen siegt häufig die Bequemlichkeit über den Klimaschutz. Dies zeigt eine Jugend-Studie der Hertie School in Berlin. Zwar sagen 56 Prozent der mehr als 1000 befragten Jugendlichen, dass der Klimawandel zu ihren größten Zukunftssorgen gehört. Aber: Mehr als 80 Prozent sind nicht bereit, dauerhaft auf ein eigenes Auto oder auf tierische Produkte zu verzichten. Die Forscher kommen zum Fazit: Es gibt zwar ein gewisses Umdenken im Vergleich zur älteren Bevölkerung. Aber auch junge Menschen wollen oft nicht auf Bequemlichkeit und Komfort verzichten.
Um unser Verhalten in Richtung mehr Umweltschutz zu ändern, ist wohl noch ein langer und dorniger Weg erforderlich. Wir kommen hier nur in kleinen Schritten voran. Nur allein über Verhaltensänderungen bekämpfen wir nicht den Klimawandel. Die Politik muss für alle Bürgerinnen und Bürger klare und realistische Vorgaben machen und ebenso Anreize setzen.
Drei Beispiele: Mehr Fahrradfahren werden wir wohl nur dann, wenn die Infrastruktur so wie in Kopenhagen oder in Amsterdam attraktiv dafür ist und das Fahrradfahren noch mehr gesellschaftliche Anerkennung findet. Weniger Plastik verwenden wir, wenn die Politik wie es jetzt erfolgt ist, Plastiktüten in Supermärkten verbietet. Auf Kurzflüge verzichten wir, wenn die Bahn billiger, zuverlässiger und schneller ist.
Das Science Media Center Germany hat Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen dazu befragt, was der Einzelne zum Klimaschutz beitragen kann – und wie man die Menschen dazu bewegen kann, endlich mit dem Handeln anzufangen? Schließen wir dieses Kapitel mit ausgewählten Auszügen aus diesen Stellungnahmen:
Dr. Michael Kopatz, Projektleiter Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik, Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH, Wuppertal
„Verhältnisse ändern Verhalten: Strukturen müssen sich so verändern, damit Öko zum Normalfall wird. Die Produkte im Supermarkt können nachhaltiger werden, ohne dass sich jede und jeder über das nachhaltigste Produkt oder moralisch korrekten Konsum den Kopf zerbrechen muss.“
Prof. Dr. Anna-Katharina Hornidge, Professorin für Sozialwissenschaften in den marinen Tropen, Leibniz-Zentrum für Marine Tropenökologie GmbH (ZMT), Bremen
„Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, das sich gerne von Strukturen und Alltagsregeln leiten lässt. Verhaltensänderung von vielen zu erzielen, bedarf dem Anpassen unserer rechtlichen, ökonomischen und sozial als akzeptiert geltenden Regeln und Normen. Hier tragen Staat und Markt eine große Verantwortung.“
„Massive gesellschaftliche Transformationsprozesse gehen entweder auf einschneidende historische Ereignisse zurück, also ökologische Krisen, Kriege, Hungersnöte, oder aber auf sukzessive gesellschaftliche Lernprozesse, die Lebensstile, Moden und soziale Schichten übergreifend prägen und Veränderungen im alltäglichen Verhalten, in den Routinen der Menschen als anstrebenswert erscheinen lassen und sie strukturell ermöglichen.“
Prof. Dr. Andreas Ernst, Professor für Umweltsystemanalyse/Umweltpsychologie, Center for Environmental Systems Research, Universität Kassel
„Alle energie- und damit klimarelevanten Verhaltensweisen wie Mobilität, Wohnen oder Ernährung sind Gewohnheiten. Wir wissen selbst, wie schwer es ist, Gewohnheiten zu ändern. Hier helfen nur Bündel von unterstützenden, aber auch lenkenden Maßnahmen, die sowohl im Kopf als auch außerhalb des Kopfes ansetzen. Es ist hier genauso wichtig, durch ernsthafte Vorbilder in Freundeskreis, Politik und Wirtschaft den Stellenwert von Klimaschutz vor Augen geführt zu bekommen, wie die faktische Verfügbarkeit von sicheren Fahrradwegen oder öffentlichem Nahverkehr.“
Von Dr. Thies Claussen sind die Bücher „Im Wandel der Zeit. Wo stehen wir? Wohin gehen wir?“ (2022), „Denkanstöße – Acht Fragen unserer Zeit“ (2021), „Unsere Zukunft nach Corona“ (2020), „Ludwig Erhard. Wegbereiter unseres Wohlstands“ (2019), „Zukunft beginnt heute“ (2018) und „Unsere Zukunft“ (2017) erschienen.
Der Autor war Ministerialdirigent im Bayerischen Wirtschaftsministerium und zuletzt Vizechef der LfA Förderbank Bayern.
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