Jugoslawien 1999: 78 Tage zwischen Hof und Keller

Der Engelsdorfer Verlag veröffentlicht im Dezember 2011 das Tagebuch des Schweißers und Kroaten Goran, übertragen und aufbereitet von Berthold W. Knabe, über die 78-tägige Bombardierung der Stadt Novi Sad während des Kosovo-Krieges.

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Cover des Buches NATO-Kollateralschaden Jugoslawien

Es ist leider Gottes eine wahre Geschichte aus dem Jahr 1999: Die NATO-Luftstreitkräfte bombardieren ein Land, das nicht irgendwo fernab hinter dem Bosporus oder weit weg in Afrika, sondern mitten in Europa liegt. Ein totalitäres Milosevic-Regime soll in kürzester Zeit weichgeschossen werden. Doch Leidtragende sind wie immer die Zivilisten. Kinder, Frauen und Männer flüchten 78 Tage und Nächte lang in provisorisch eingerichtete Luftschutzkeller. Im deutschen Fernsehen dürfen sie verfolgen, wie deutsche Politiker den Kollateralschaden (Unwort des Jahres 1999) des Kosovo-Krieges schönreden, und das deutsche Volk von der Sinnhaftigkeit der Zerstörung ziviler Einrichtungen zu überzeugen versuchen. Ein Hohn in den Ohren vieler jugoslawischer Familienväter, vor allem jener, die eilig aus der Gastarbeiterschaft der Bombenwerfer in die Heimat reisen, um die eigenen Frauen und Kinder vor der Dauerbombardierung zu schützen. Am Beispiel Novi Sad wird klar: Es wurde gebombt ohne Rücksicht auf Verluste. Krankenhäuser, Chemiefabriken, Brücken, Schulen verschwanden von den militärischen Landkarten. Vieles konnte mittlerweile wieder aufgebaut werden, anderes – wie die Zerstörung einer Raffinerie am Stadtrand – wird sich nachhaltig auf die Gesundheit derer auswirken, die gerade erst oder in Zukunft im mehrfach zerteilten Land geboren werden.

»NATO-Bomben. Jugoslawien – 78 Tage zwischen Hof und Keller« ist ein Tagebuchroman für die Menschen, die Interesse an den Geschehnissen rund um den Kosovo-Krieg haben.
Der Autor des mit zahlreichen Fotos illustrierten Tagebuch-Romans, Berthold Knabe, beschreibt das Werk wie folgt: »Für diejenigen, die fern jeder Propaganda erfahren möchten, wie die Menschen in Novi Sad während der 78 Tage andauernden Bombardierungen im Jahre 1999 ihren Alltag erlebten. Für jene, die immer schon wussten, dass Kriege wie der im Kosovo vor allem die Zivilbevölkerung treffen. Und gewiss auch für die, die in dem Glauben sind, dass alle Serben Anhänger des Milosevic-Regimes waren. Begründet durch meine über zehn Jahre währende Verbundenheit mit dem Land, aus dem meine Frau stammt, beruht dieser Roman auf den Aufzeichnungen meines dort lebenden Neffen, der während des Krieges einen täglichen Bericht für die Zivilschutzbehörde anzufertigen hatte, sowie auf Gesprächen mit Augenzeugen, die ich ein Jahr nach dem Krieg vor Ort geführt habe.«

Der gebürtige Kroate Goran ist als Schweißer bei den staatlichen Heizkraftwerken der Stadt Novi Sad angestellt. Mit seiner als Krankenschwester arbeitenden Frau Sandra bewohnt er in einem Hinterhof im Zentrum der Stadt eine kleine Wohnung. Zusammen seinem Bruder Ivan, dessen Frau Slavica und anderen Hofmitbewohnern, die sich aus den verschiedensten ethnischen Minderheiten der einstmaligen autonomen Provinz Vojvodina zusammensetzen, leben sie in der 300.000 Einwohner zählenden Stadt, in der die Opposition gegen das Milosevic-Regime ein starkes Gehör hat, wie in einer Großfamilie. Nach einem Besuch bei seinem Angelfreund Milo, der mit seinem Vater in Klisa, einem Vorort von Novi Sad, unweit einer Polizeikaserne und der Gasraffinerie lebt, die die halbe Vojvodina versorgt, stellt Goran beunruhigt fest, dass die Polizei die Kaserne geräumt hat. Auf dem Heimweg gerät Goran in einen Stau, ausgelöst von Polizei- und Armeeangehörigen, die ebenfalls die Stadt verlassen. In den Nachrichten wird von Verhandlungen in Rambouillet berichtet, doch um was es sich dabei konkret handelt, darüber schweigen sich die Medien aus. Ein paar Tage später fährt Goran in das Naherholungsgebiet der Fruska Gora und besucht seine dort lebenden Verwandten. Auch hier stellt er fest, dass alle militärischen Einrichtungen verwaist sind. Die Menschen um ihn herum werden immer nervöser und sie vermuten, dass es zum Krieg mit den NATO-Staaten kommen wird. Goran allerdings ist anderer Meinung. Er glaubt an die Werte der demokratischen Regierungen des Westens und an den Auftrag der NATO als Verteidigungsbündnis. Für ihn ist es undenkbar, dass Länder wie Deutschland ihre eigene Verfassung missachten und an einem Angriffskrieg teilnehmen könnten. Am 24. März 1999 um 20.03 Uhr geschieht das Unglaubliche. Novi Sad wird ohne Warnung von NATO-Flugzeugen angegriffen und bombardiert. Goran und seine Hofmitbewohner flüchten in den Keller, der von nun an als Luftschutzraum dient und dem er wenige Tage später als Verantwortlicher vorsteht. Mit den detonierenden Bomben und Raketen zerplatzen auch Gorans Hoffnungen, die er in die Opposition gegen das Milosevic-Regime gesetzt hat. Auch sein Glaube an die demokratischen Werte der westlichen Nationen geht verloren in diesem Krieg, der 78 Tage dauert und Restjugoslawien in die vorindustrielle Zeit zurückversetzt.

Berthold W. Knabe: »NATO-Kollateralschaden Jugoslawien. 78 Tage zwischen Hof und Keller«, Engelsdorfer Verlag Leipzig, ISBN 978-3-86268-511-0
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