„Mehr als ein Jahr nach dem Erdbeben, ein gehetzter Besuch in Yushu“ von Woeser

IGFM München

(NL/1092995460) High Peaks Pure Earth übersetzte einen Blog Eintrag der tibetischen Schriftstellerin Tsering Woeser aus dem Chinesischen ins Englische. Im Juli reisten Woeser und ihr Ehemann Wang Lixiong mit dem Auto nach Lhasa, danach verfaßte sie einige Beiträge, die von den Orten, handeln, die sie auf dem Weg dorthin besucht haben.

In Woesers vorherigem Beitrag ging es um den verarmten Bezirk Matö , während sich dieser auf Yushu konzentriert, jenes Gebiet in Kham, welches am 14. April 2010 von einem Erdbeben der Stärke 7,1 erschüttert wurde.

Woeser hat zuvor schon über das Erdbeben geschrieben und Vorfälle geschildert, zu denen es in der Zeit danach kam. Am Jahrestag des Erdbebens schrieb Woeser darüber, wie ein Dokumentarfilm zum Gedenken an das Beben verboten wurde.

Mehr als ein Jahr nach dem Erdbeben, ein gehetzter Besuch in Yushu-
von Woeser

Als wir in Richtung Yushu unterwegs waren, fühlte ich die seltsamsten Emotionen in mir aufkommen. Wir alle wissen von dem schweren Erdbeben, das Yushu letztes Jahr am 14. April heimsuchte; zahlreiche Häuser wurden zerstört, zahlreiche Leben plötzlich beendet. Ich hatte Yushu davor schon häufig besucht, blieb einmal sogar einen halben Monat dort, sodass ich den Einheimischen und ihren Sitten tiefe Gefühle entgegenbringe. Eine der Geschichten, die mich besonders beeindruckt hatte, war die eines bestimmten Rinpoche, der in Yushu eine Bibliothek gründete, wo er hauptsächlich tibetische, aber auch chinesische und englische Bücher sammelte, und die nicht nur vom Buddhismus handelten.

Im Jahr des Erdbebens schrieb ich einen Artikel mit dem Titel „Tibeter aus Yushu sprechen über das Jahr nach dem Erdbeben“. In Anbetracht der jüngsten Entwicklungen in Yushu haben mir alle meine tibetischen Freunde aus Yushu erzählt, dass es eine Reihe von Tabuthemen gibt, über die nichts nach außen gelangen darf: erstens, alles was Grundstücke und Immobilien betrifft; zweitens, alles was Schulen und Schüler betrifft; drittens, alles was religiöse Versammlungen und andere buddhistische Aktivitäten betrifft. Also schrieb ich: „Es scheint, als sei die Wiedergeburt nach der Zerstörung extrem schwierig. Natürliche und menschliche Katastrophen haben zu einem zweifachen Angriff geführt. Die Entwürfe für die Wiederaufbaupläne der Regierung haben sich wieder und wieder geändert; abgesehen vom Dorf Changu, das mit einfachen Gebäuden mit roten Dächern wieder aufgebaut wurde und als Musterbeispiel dient, wohnt die Mehrheit der Katastrophenopfer noch immer in Zelten und führt kein normales Leben.“

Wie also sieht Yushu heute, oder sagen wir am 26. Juli 2011, aus?
Zunächst muss ich erwähnen, dass wir in unserem Auto, als wir die Bezirksstadt Yushu beinahe erreicht hatten, plötzlich in der Nähe von Gyana Mani von der Polizei angehalten wurden. Und es war nicht nur die Verkehrspolizei, sondern es waren auch polizeiliche Spezialeinheiten dabei und ein älterer, in Zivil gekleideter Polizist. Außerdem sagte einer von der polizeilichen Spezialeinheit, ein junger, gutaussehender Tibeter, als er den Ausweis von Wang Lixiong überprüfte, auf Tibetisch: „Tha ge rey (er ist es)“ – da wurde mir plötzlich klar, dass dies keine Routineinspektion war, sondern dass sie es speziell auf uns abgesehen hatten.

Es wurde uns zwar gestattet zu passieren, aber wir wurden im weiteren immer beschattet. Als wir in Gyana Mani hielten, verließ ich das Auto trotzdem und lief in Gyana Mani herum, das jüngst von zahlreichen Gläubigen durch eigene Arbeit restauriert worden war, was über eine Stunde dauerte. Viele Tibeter drehten schweigend Gebetsmühlen, entlang der Straße konnte man die himmelblauen Zelte, die für die Katastrophenopfer errichtet worden waren, sehen. Ich fragte eine der Personen, die eine Gebetsmühle drehten, und er erzählte mir, dass sie womöglich weitere zwei oder vielleicht auch noch drei Jahre dort leben müssen. „Wir wissen es nicht“, sagte er mit angsterfüllter Stimme. Ich sah auch eine Gruppe von Grundschülern in ihren blau-weißen Schuluniformen, die mir erzählten, dass es in Yushu nur Grundschulen gibt und sie, wenn sie älter werden, in Han-Regionen ziehen müssen, um die Schule fortsetzen zu können. Diese Kinder waren unter all den Menschen, die ich traf, die fröhlichsten.

Neben Gyana Mani fand ich einige mit Eisenblech bedeckte Küchenherde mit großen Kochtöpfen darauf. Eine alte Ani (Nonne), die freiwillig Tee für diejenigen kochte, die die Gebetsmühlen drehten, packte meine Hand und fragte mich, wo meine Zuhause war; ich sagte nur „Lhasa“, dann wurde meine Stimme vom Schluchzen erstickt… Die Umgebung von Gyana Mani war staubig und sandig. Eine junge tibetische Frau bückte sich und versuchte den Staub, der sich auf einen Mani-Stein mit der Inschrift „Om“ gelegt hatte, abzuwischen. Sie benutzte sogar ihren Mund, um ihn zu reinigen. Aber die vorbeifahrenden Autos und Bagger wirbelten stets von neuem Staub und Sand auf und der Mani-Stein wurde immer und immer wieder zugedeckt.

Beim Einbruch der Dunkelheit erreichten wir Yushu, welches in unserer Erinnerung immer so fortexistiert hatte, nun aber fremd und bis zur Unkenntlichkeit verändert erschien. Yushu war bereits zu einer staubigen und lauten Baustelle geworden – das war der Eindruck, der sich uns aufdrängte, als wir ankamen. Es gab viele verschiedene Baufirmen, allerlei Baumaschinen und viele verschiedene Menschen von unterschiedlichen Orten, die dort herumliefen. „Es scheint als wären alle Bauunternehmer Chinas nach Yushu gekommen“, seufzte ich. Aber ein Jahr und drei Monate nach dem Erdbeben glich Yushu noch immer einem Schlachtfeld, das gerade bombardiert worden war. Überall sah man beschädigte Mauern.

Wir wurden ständig von drei Autos beschattet, die uns dicht folgten. Das war definitiv eine Warnung an uns. Wir wussten, dass es uns davon abhalten sollte, mit unseren ansässigen Freunden in Kontakt zu treten, damit wir nichts über die wahre Situation vor Ort in Erfahrung bringen sollten. Denn wenn wir uns wirklich mit Freunden hätten treffen wollen, wie hätten wir es dann verhindert, dass sie in Schwierigkeiten gerieten? Alles, was wir tun konnten, war eine lange Zeit in der Stadt umher zu laufen und eine Herberge zum Übernachten zu suchen, was kein einfaches Unterfangen war. Als wir eincheckten, trafen wir zufällig einen führenden Unternehmer für Leiharbeitskräfte aus Sichuan, der uns erzählte, dass er seine Arbeit beendet hatte und zurückgekommen war, um sein Geld zu holen, aber nun schon eine Woche darauf wartete. Wütend sagte er: „Diese Kader – sie verschlingen das Geld.“

Am selben Abend konnte ich nicht einschlafen. Ich nahm einen Geruch wahr, den ich zuvor noch nie gerochen hatte. Ich fragte Wang Lixiong, ob das wohl der Geruch der Erdbebenopfer sei. Vielleicht verzieht er sich nie?

Lhasa, 24. August 2011
Bilder hierzu, siehe Woesers Blog: http://woeser.middle-way.net/2011/08/blog-post_31.html

Quelle: HighPeaksPureEarth, http://www.HighPeaksPureEarth.com

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