Mehr Sicherheit bei orthopädischen OPs: Individuelles Infektionsrisiko per App ermitteln

EFORT 2013: Europäischer Orthopädiekongress mit 7.500 Teilnehmern/-innen in Istanbul

Langer Leidensweg und ein Vielfaches an Kosten: Infektionen nach orthopädischen Operationen sind ein schwerwiegendes Problem in der Gesundheitsversorgung. Eine wissenschaftliche App soll Patienten/-innen und Ärzten/-innen helfen, mögliche Infektionsrisiken abzuschätzen und variable Risiken vor Implantationen zu minimieren. Auch Patienten/-innen können zur Infektionsprophylaxe beitragen, so Experten/-innen auf dem EFORT Kongress in Istanbul.

Istanbul, 7. Juni 2013 – „Auch wenn sich Infektionen nie zur Gänze verhindern lassen, sollten wir uns bei jeder orthopädischen Operation fragen, ob wir das Risiko dafür nicht noch weiter senken könnten. Die Goldene Regel lautet: Eine Minute Infektionsprophylaxe verhindert eine Stunde Infektionsbehandlung. Das Bewusstsein dafür wächst, muss aber noch in den Köpfen aller Beteiligten ankommen“, sagte Dr. Olivier Borens (Waadtländischen Universitätsklinik Lausanne, Schweiz) beim 14. Kongress der Europäischen Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie (EFORT) in Istanbul, wo 7.500 Experten/-innen aktuelle Entwicklungen des Fachgebietes diskutieren.

Durch den demografischen Wandel und die höhere Lebenserwartung werden immer mehr künstliche Gelenke oder Gelenksteile implantiert. Allein die Zahl der Hüftimplantationen ist zwischen 2000 und 2010 in Dänemark um 40 Prozent, in Spanien um 25 Prozent und in Frankreich um zehn Prozent gestiegen. Anders als Knochenbrüche sind Implantationen gut planbare Eingriffe. Trotzdem kommt es bei Hüft- oder Schulter-Implantationen in ein bis zwei Prozent der Fälle zu einer Infektion, bei einem künstlichen Knie bei zwei bis drei Prozent, bei einem Knöchel bei vier Prozent, bei einem Ellbogen bei bis zu zehn Prozent. „Für die Betroffenen bedeuten die Komplikationen enorme Beschwerden, einen sehr langwierigen Genesungsverlauf und möglicherweise chronische Entzündungen. Den Gesundheitsetats verursachen sie ein Vielfaches an unnötigen Ausgaben. Die Folgekosten durch eine postoperative Infektion können bis zu zehnmal so hoch sein wie die OP selbst – durch weitere Arztkosten, Ausgaben für Antibiotika, Nachoperation oder Arbeitsunfähigkeit“, so Dr. Borens.

Risikofaktor Betriebsblindheit

Um postoperative Infektionen zu verhindern, sei es gar nicht nötig, neue Prophylaxe-Methoden zu entwickeln. „Wir müssen sie nur leben und ähnlich einem Piloten immer wieder kleinste Sicherheitsdetails durchchecken und offensiv und konsequent auch kleinste Nachlässigkeiten bekämpfen, die vor, während oder nach der OP zu einer Infektion führen könnten. Dazu zählt eine ungenaue Einschätzung, welche Patienten/-innen operabel sind, nicht-guidelinekonforme Bedingungen im Operationssaal oder Fehler beim Wundmanagement nach dem Eingriff“, sagte Dr. Borens. Unerlässlich seien Schulungen für alle an den Operationen Beteiligten – einschließlich der Patienten/-innen. „Chirurgen/-innen wissen selbstverständlich, dass im Operationssaal angelegte Wundverbände die saubersten sind, weil dort sterile Bedingungen herrschen. Aber weiß auch der/die Patient/-in, dass der Verband während der ersten Tage möglichst nicht entfernt werden soll?“, so Dr. Borens. Der größte Risikofaktor ist laut Dr. Borens die Summe der Kleinigkeiten, die im Alltag leicht übersehen werden: etwa Haare, die unter der OP-Haube hervorrutschen oder ein winziges Loch in dem Papier, auf dem das sterile Operationsbesteck liegt. Daher seien externe Audits und Risk-Management-Maßnahmen angezeigt, um für mögliche Fehlerquellen nicht betriebsblind zu werden. Chirurgen/-innen sollten zudem speziell trainiert werden, die Risikofaktoren für eine postoperative Wundinfektion zu erkennen – auch jene, die bei den Patienten/-innen selbst liegen.

Statistisches Risiko ermitteln

Das Aufspüren und Bewerten dieser Risikofaktoren soll den Ärzten/-innen künftig erleichtert werden. Dr. Carlo Luca Romanò, Professor an der Universität Mailand und Präsident der European Bone and Joint Infection Society, finalisiert derzeit zusammen mit Dr. Javad Parvizi, Vorsitzender der Musculoskeletal Infection Society (USA), ein langjähriges Projekt, für das weltweit Fachliteratur zusammengetragen wurde. Ihre Teams ermittelten 20 mögliche Risikofaktoren für postoperative Infektionen und bewerteten diese auf der Basis statistisch relevanter Forschungsergebnisse. „Unser Ziel ist ein klinisch fundiertes Punktesystems, das Auskunft über die statistische Infektionswahrscheinlichkeit nach einer OP gibt. Die bisher verfügbaren Klassifizierungs- und Bewertungsschemata sind bei allen Meriten zu allgemein und lassen den behandelnden Ärzten/-innen sehr großen Interpretationsspielraum. Das neue Punktesystem umfasst mehr Risikofaktoren, ist wesentlich präziser in der Aussage und eine echte Hilfestellung vor einer geplanten Operation“, betonte Prof. Romanò.

Der künftige „Risiko-Index“ stellt auch deshalb bisherige Bewertungssysteme in den Schatten, weil er hilft, das komplexe Zusammenspiel diverser Faktoren zu deuten. „Die Risiko-Faktoren können miteinander verknüpft bewertet werden, was eine Einschätzung möglicher Wechselwirkung und Potenzierungen zulässt. Bei manchen Faktoren addiert sich das Risiko nicht einfach, sondern multipliziert sich. Andere Faktoren wiegen vielfach schwerer, wenn sie bei einem älteren, multimorbiden Menschen auftreten. Der geplante Risiko-Index wird also in der Lage sein, wesentlich genauere Patienten/-innentypologien herauszuarbeiten“, erklärte Prof. Romanò.

Infektionen als Hauptgrund für abgestoßene Prothesen

Die Suche nach Risikofaktoren ist gerade in der Implantologie von enormer Bedeutung, wie Zahlen aus den USA verdeutlichen: Postoperative Infektionen sind der Grund Nummer eins, warum eine Knieprothese wieder abgestoßen wird, bei künstlichen Hüften sind sie Ursache Nummer drei. Eine Reihe von Risiken kann von Patienten/-innen selbst beeinflusst werden – was weder der breiten Öffentlichkeit noch den Chirurgen/-innen ausreichend bewusst sei, so Prof. Romanò: „Die Risikofaktoren für peri-prothetische Infektionen können beim/bei der Operateur/in bei der OP-Nachsorge oder bei den Prothesenempfänger/-innen selbst liegen. Die patientenbezogenen Risikofaktoren überwiegen gegenüber den beiden anderen Risikoquellen, und zwar hinsichtlich der absoluten Zahl der Betroffenen als auch, was die spezifische Auswirkung auf das finale Risiko betrifft. In diesem Zusammenhang kann unser Punktesystem transparent machen, wie schwer einzelne Faktoren wiegen.“

Um Patienten/-innen optimal auf die OP vorzubereiten, sollten die variablen Risikofaktoren ausgeschaltet oder verringert werden. Die Patienten/-innen könnten zum Beispiel vor der OP mit dem Rauchen aufhören, cortisonhaltige Medikamente absetzen, internistische Werte wie Bluthochdruck oder schlecht eingestellten Diabetes verbessern oder Übergewicht reduzieren. Prof. Romanò: „Ist das ermittelte Infektionsrisiko sehr hoch, sollte auch erwogen werden, ob die OP nicht mehr Nachteile als Nutzen bringt, und gegebenenfalls darauf verzichtet werden.“ Das hochkomplexe Bewertungstool soll möglichst einfach in der Anwendung sein und Ärzten/-innen sowie Patienten/-innen als kostenfreie App zur Verfügung stehen, um die Vorbereitung auf eine OP zu verbessern.

Hintergrund EFORT

Die European Federation of National Associations of Orthopaedics and Traumatology (EFORT) ist die Dachorganisation orthopädischer Fachgesellschaften in Europa. EFORT wurde 1991 im italienischen Marentino gegründet. Heute gehören ihr 42 nationale Mitgliedsgesellschaften aus 43 Ländern und sechs assoziierte wissenschaftliche Organisationen an.

EFORT ist eine Non-Profit Organisation. Das Ziel der Mitgliedsgesellschaften ist es, den Austausch von wissenschaftlichem Fachwissen und von Erfahrungen in der Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten und Verletzungen des muskuloskelettalen Systems zu fördern. EFORT organisiert europäische Konferenzen, Schulungen, Kurse, Foren und Kongresse. Ferner werden von EFORT Grundlagenforschung und klinische Forschung initiiert und unterstützt.

Quelle: EFORT Instructional Lecture: Risk factors for postoperative infection