Warum empfinden wir das Fleisch bestimmter Tierarten als schmackhaft und das Fleisch anderer als ekelerregend? Die Expertin Prof. Dr. Melanie Joy hat die Psychologie des Fleischessens jahrelang untersucht und gibt Antworten auf die häufigsten Fragen.
Der jüngste Pferdefleisch-Skandal, bei dem Verbraucher damit konfrontiert wurden, dass das von ihnen verzehrte Fleisch von Pferden anstatt von Kühen stammte, hat einen internationalen Aufschrei verursacht. Die meisten Menschen reagierten instinktiv empört auf die Tatsache, dass sie das Fleisch einer anderen Spezies als der angenommenen gegessen hatten. Verbraucher und Öffentlichkeit fühlen sich gleichermaßen „angewidert“ und um ihre Moral betrogen.
Doch wie vernünftig ist diese Reaktion? Das Fleisch an sich hat sich nicht verändert – solange die Verbraucher dachten, sie äßen Rindfleisch, empfanden sie es als so schmackhaft wie gewohnt. Das einzige, was sich im Nachhinein verändert hatte, war die Wahrnehmung der Verbraucher. Warum ist das Fleisch einer Kuh appetitlich und das Fleisch eines Pferdes nicht? Warum nehmen wir das Fleisch einer Tierart entweder als köstlich oder als ekelerregend war?
Die dramatische Reaktion der Verbraucher ist irrational und dennoch verständlich, weil auch die „Mentalität des Fleisches“ irrational ist, die unsere Wahrnehmung und Vorstellung von Eiern, Milch und Tieren, die wir essen, prägt. Diese Mentalität ist vom sogenannten „Karnismus“ (1) (aus dem Englischen: carnism) geprägt, einem unsichtbaren Glaubenssystem, das uns konditioniert, bestimmte Tiere zu essen. Karnismus ist ein dominantes, gewalttätiges Glaubenssystem: Es ist fest mit der Struktur der Gesellschaft verwoben und formt in uns, was wir über das Essen von Tieren denken und fühlen. Daneben ist Karnismus gewaltorientiert.
Wir neigen dazu, anzunehmen, dass nur vegetarisch und vegan lebende Menschen bei ihren Ernährungsentscheidungen einem Überzeugungssystem folgen. Aber wenn das Essen von Tieren in den meisten Teilen der Welt heute keine Notwendigkeit mehr für das Überleben darstellt, so hat man auch hier eine Wahl – und eine Wahl beruht immer auf einer Überzeugung.
Trotzdem haben viele Menschen, die Fleisch, Eier und Milch konsumieren, Mitleid mit Tieren und möchten nicht, dass sie leiden. Also muss Karnismus eine Reihe von sozialen und psychologischen Abwehrmechanismen aktivieren, um Menschen zu unmenschlichen Praktiken zu befähigen, ohne dass sie vollständig realisieren, was sie tun. In anderen Worten führt Karnismus dazu, nichts zu fühlen, wenn es um die Arten geht, die wir gemäß unserer gesellschaftlichen Prägung als etwas Essbares betrachten. Und obwohl sich die konsumierten Tierarten von Kultur zu Kultur unterscheiden, sind die meisten Menschen bei dem Gedanken, alle Tiere statt einiger ausgewählter Arten zu essen, angewidert und empört.
Warum ist es falsch, Pferde, nicht aber Kühe zu essen? Kühe sind wie Pferde fühlende, intelligente Wesen, die ein Leben führen, das für sie bedeutsam ist. Warum machen wir uns keine Gedanken über die Auswirkungen unserer Entscheidungen auf die Kühe, wenn wir sie essen? Warum erkennen wir nicht einmal, dass wir eine Entscheidung treffen, wenn wir das Fleisch eines beliebigen Tieres essen?
Wenn wir uns nicht mit Karnismus auseinandersetzen – mit dem System, das bislang unsere Nahrungsentscheidungen wie eine unsichtbare Hand geführt hat – sind wir nicht in der Lage, unsere Entscheidungen frei zu fällen, weil es ohne dieses Bewusstsein keine freie Entscheidung geben kann.
Verbraucher haben das Recht, die Wahrheit über Karnismus zu erfahren, damit ihre Entscheidungen auf ihren eigenen Gefühlen und Überzeugungen basieren – und nicht auf einem beigebrachten System. Denn dann profitieren wir alle: Menschen und Tiere gleichermaßen.
Prof. Dr. Melanie Joy ist eine in Harvard ausgebildete Psychologin, Gründerin und Präsidentin von „Carnism Awareness and Action Network“ (CAAN), ein Aktionsnetzwerk für das Bewusstsein für Karnismus (2) und Autorin des preisgekrönten Buches „Why We Love Dogs, Eat Pigs and Wear Cows“ (3) von dem eine deutsche Fassung ab Mai im Verlag compassion media erscheint.
Weiterführende Informationen:
(1) www.vebu.de/karnismus (ausführlicher Artikel)
(2) www.carnism.com (Aktionsnetzwerk und Website von Dr. Melanie Joy (CAAN))
(3) http://www.youtube.com/watch?v=85-oXuz54fw (Zwei-minütiges Video zum Thema: „Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen“)
Der VEBU ist die größte Interessenvertretung vegetarisch und vegan lebender Menschen in Deutschland. Seit seiner Gründung 1892 wirkt die Organisation mit gezielter Öffentlichkeitsarbeit darauf hin, den Fleischkonsum in der Gesellschaft deutlich zu senken sowie die vegetarische Lebensweise als attraktive Alternative möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen.
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