Projekt: Neue Nachbarschaft: Interview mit Joachim Barloschky

„Der Mensch braucht ein Dach über dem Kopf, das ordentlich und bezahlbar ist.“

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Joachim Barloschky ist Jurymitglied des Projekt: Neue Nachbarschaft

Die sozialen Aufgaben vor Ort wachsen, während die dafür zur Verfügung stehenden Mittel immer weiter schrumpfen. Immer mehr Bürger sehen, dass sie selbst aktiv werden müssen, damit ihre Probleme gelöst werden. Joachim Barloschky hat solche Prozesse sowohl als Bürger als auch professionell begleitet. Seit den 80er Jahren arbeitete er im Bremer Vorort Tenever für bessere Wohn- und Lebensbedingungen – und kann dabei vorzeigbare Erfolge durch nachbarschaftliches Engagement verbuchen.

Herr Barloschky, seit Jahrzehnten engagieren Sie sich im sozialen Bereich für bessere Nachbarschaften. Ihr Credo lautet: Wohnen ist ein Menschenrecht. Was genau meinen Sie damit?

Der Mensch braucht ein Dach überm Kopf, das ordentlich ist und bezahlbar! Das mag sich banal anhören, wird bei uns aber zu einem immer größeren Problem. Wenn Wohnraum ein Spekulationsobjekt ist, bleiben die Mieter auf der Strecke. Erst recht, wenn ihnen die finanziellen Mittel für eine Alternative fehlen. Dann helfen Nachbarschaften, in denen Solidarität gelebt wird.

Eine Situation, die Sie kennen.

Ich habe mich in dem Bremer Hochhaus-Stadtteil Tenever in den 80er Jahren als „Bewohneraktivist“ für und mit meinen Nachbarinnen und Nachbarn für eine grundlegende Verbesserung in unserem sogenannten benachteiligten Stadtteil eingesetzt. Wir haben einen Bewohnertreff gegründet, Mietpreis-Stopp-Demos durchgeführt und nachbarschaftliche Projekte umgesetzt.

Was macht für Sie denn eine gute und intakte Nachbarschaft aus?

Wichtig: immer freundlich sein! Respekt geben und Respekt erhalten. Andere aktiv unterstützen und von anderen Unterstützung erhalten und annehmen. Eine Nachbarschaft funktioniert, wenn man seine Interessen gemeinsam vertritt. Entscheidend: Veränderungen dürfen nicht ohne die Betroffenen eingeleitet werden. Wenn die Betroffenen dabei sind, muss man denen lediglich Mut machen und Erfolgserlebnisse organisieren.

Was für Nachbarschaftsverhältnisse haben Sie in Ihrer Heimat Tenever bei Bremen angetroffen, als sie dort hingekommen sind?

Tenever – ein Demonstrativbauvorhaben des Bundes – hatte sich zum benachteiligten Quartier entwickelt. Die Eigentümer haben ihre Rendite erhöht, indem sie Instandsetzung und Modernisierungen konsequent vernachlässigt haben. Zum Teil waren menschenunwürdige Wohnver-hältnisse das Ergebnis. Die Folge: Leerstände. Unter denen, die geblie-ben sind, waren viele materiell Benachteiligte, unter ihnen viele Flüchtlinge und Migranten.

Wie haben Sie die Probleme in Angriff genommen?

Seit 1990 habe ich dann als Quartiersmanager für die Stadt Bremen in Tenever gearbeitet. Wir haben ein öffentliches Forum gegründet, an dem alle teilnehmen, die sich für Tenever engagieren wollen. Hier arbeiten Bewohner mit Vertretern der Politik, der öffentlichen Verwaltung, der Wohnungswirtschaft, der lokalen Wirtschaft, der sozialen und schulischen Einrichtungen und Initiativen zusammen. Hier werden große und kleine Probleme Tenevers behandelt. Konkret: Wir haben die Probleme Armut, Ausgrenzung, marode Wohnverhältnisse öffentlich thematisiert und so Druck gemacht. So konnten wir zum Beispiel durchsetzen, dass Tenever eine grundlegende Sanierung erhalten hat.
Besonders wichtig: In der Stadtteilgruppe entscheiden wir basisdemo-kratisch nach dem Konsens-Prinzip, das heißt jeder hat ein Vetorecht. Die Gruppe entscheidet über die Vergabe von öffentlichen Mitteln (ca. 300.000 EUR pro Jahr) für Projekte zur Verbesserung der Wohn- und Le-benssituation. Solche Projekte wie ein Kinderbauernhof oder viele kleinere Projekte aus dem sozialen oder dem Bildungsbereich haben das nachbarschaftliche Leben sehr gestärkt.

Teilweise wohnen viele Menschen jahrelang in einem Haus, in dem sie nicht mal den direkten Türnachbarn kennen oder kennen wollen. Wie motiviert man denn solche Nachbarn, aufeinander zuzugehen?

Nachbarn sollen leben wie sie wollen. Erzwingen kann und soll man gar nichts. Aber man kann Räume im doppelten Sinne schaffen: Also reale Räume für nachbarschaftliche Begegnungen und gleichzeitig den Anliegen von Nachbarn „Raum“ geben – wie das in der Stadtteilgruppe geschieht, wo die Bewohner mit ihren Sorgen, aber auch mit ihren Ideen und Bedürfnissen einen Resonanzboden bekommen.
Räume für nachbarschaftliche Begegnung sind bei uns auch die Kitas, Schulen, Kurse, Treffpunkte, Spielhäuser, die Halle für Bewegung und die verschiedenen sozialen Einrichtungen wie Mütterzentrum, Frauen-gesundheitstreff, Arbeitslosenzentrum oder das Café Abseits…

Vielerorts klagen die Kommunen über immer weiter schrumpfende Sozialbudgets. Ist das Engagement der Basis da nicht ein willkommener Anlass für die Politik, sich aus der Verantwortung zu ziehen?

Ich sehe das anders. Unser Engagement dient dazu, den sozialen Zu-sammenhalt zu fördern und gegen die weitere Spaltung unserer Gesellschaft in arm und reich zu kämpfen. Konkret kämpfen wir dafür, dass mehr für soziale Anliegen ausgegeben wird. Unser Land ist schön – und superreich: Umverteilung ist eine Chance, damit es weiterhin schön bleibt.

Angenommen, ich will mich in meinem und für mein Viertel engagieren – wo fängt man am besten an?

Entscheidend ist die soziale Frage. Alle Menschen wollen eine gute Zu-kunft für ihre Kinder, sie wollen von ihrer Arbeit leben können und dass ihre Kinder eine Perspektive haben… Also startet man mit den eigenen Interessen, die meistens ja gar keine Einzelinteressen sind: Man engagiert sich für mehr Kita- und Krippenplätze. Für attraktive, bezahlbare Wohn- und Lebensbedingungen.

Sie haben schon diverse Nachbarschaftsprojekte begleitet: welches war für Sie persönlich der größte Erfolg?

Menschlich hat mich sehr berührt, dass wir vor zwei Jahren eine elf-köpfige Familie vor der Abschiebung gerettet haben. Die Jugendlichen haben sich für ihre Mitschüler mit Unterschriften und Petitionen einge-setzt, die Kita hat ein Transparent rausgehängt, dass sie nicht ihre Spielkameraden verlieren wollen, die Nachbarn wollten ihre Nachbarn behalten, der ganze Stadtteil hat sich erfolgreich mit vielfältigen Aktio-nen für die Familie und humanere Behandlung aller Flüchtlinge einge-setzt. Sie bleiben unsere Nachbarn.

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Noch bis zum 31.Dezember läuft eine bundesweite Aktion zum Thema Neue Nachbarschaft. Gesucht werden Initiativen, bei denen die Bürger vor Ort selbst aktiv werden, um Probleme in ihrem Stadtteil zu lösen. Insgesamt ist ein Preisgeld von 100.000 Euro ausgeschrieben. Weitere Informationen findet man unter:
www.neue-nachbarschaft.de

Bildrechte: Copyright: Joachim Barloschky

Die Montag Stiftung Urbane Räume konzentriert sich auf Projekte und Programme, die das Zusammenleben in Nachbarschaften und Quartieren verbessern und nutzt vor allem die Möglichkeiten, die Stadtentwicklung, Städtebau und Architektur den Menschen eröffnen können. Sie unterstützt Aktivitäten, die darauf abzielen, am Gemeinwohl orientiertes und eigenverantwortliches Handeln in Nachbarschaften, Dörfern, Städten und Regionen zu stärken. Ihre Partner kommen aus der Zivilgesellschaft, der öffentlichen Hand und Unternehmen.

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