„Die Chance meiner Generation war schon immer gleichzeitig auch ihr Fluch: Alles ist möglich. Uns plagt diese tiefsitzende, diese von Grund auf fertigmachende Angst davor, uns falsch zu entscheiden. Was, wenn wir im Job, in der Liebe, im gesamten Lebensstil ein falsches Jetzt leben, das das richtige Später verhindert?“
Die junge Erfolgsautorin Nina Pauer beschreibt in ihrem Buch „Wir haben keine Angst – Gruppentherapie einer Generation“ (Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2012) die Hoffnungen, Chancen aber auch Probleme und Ängste der ‚Generation Y’. Sie erzeugt Glaubwürdigkeit nicht zuletzt durch Authentizität – Nina Pauer ist Jahrgang 1982 und fällt damit genau in die Zielgruppe.
Das Buch richtet sich einerseits direkt an all die Betroffenen der Generation Y, mit dem Ziel sich selbst besser zu verstehen und das eigene Berufs- und Privatleben in einen Kontext zu stellen. Andererseits richtet sich das Buch an alle anderen Menschen, Menschen, die die Generation besser verstehen möchten.
Anna – der Stereotyp des Talents
Die Autorin gliedert ihre Momentaufnahme der Generation Y entlang der relevanten Lebensbereiche Arbeit, Liebe, Freundschaft, Eltern und Politik. Sie erzählt die Geschichte zweier Protagonisten – Anna und Bastian (27 Jahre alt) – die als bipolare Stereotypen einen Spiegel ihrer Generation darstellen. Das Grundgerüst der Handlung bildet der regelmäßige Besuch der beiden bei einem Therapeuten. Von Außen betrachtet scheint es den Hauptdarstellern gut zu gehen. Mithilfe der Therapie sollen jedoch die inneren Ängste von Anna und Bastian bekämpft werden. In den verschiedenen Sitzungen werden die Ängste entlang oben beschriebenen Kernthemen behandelt und die individuellen Problemstellungen beleuchtet, die sich für Anna und Bastian daraus ergeben.
„Anna war das Mädchen, das vor und nach der Klassenarbeit jammerte, dass sie sicher eine Fünf schreiben werde. Die, die eine Woche später mit einer Eins plus unter ihrer Arbeit dasaß (…) Wir sind mit Anna bei Facebook befreundet. Dort können wir ihren Aufstieg weiterverfolgen. Sie ist jetzt Junior Assistant in einer Werbeagentur. Sie hat 631 Freunde. Und sieht auf jedem Bild ausgeschlafen aus. Anna ist perfekt.“
Das Erleben der Arbeitswelt wird gerade im Beispiel von Anna stets von zwei Medaillenseiten betrachtet – zwischen Zweifel und Glück, Ironie und Angst, zwischen Stress und Geborgenheit. Hier trifft sich die Perspektive der Autorin Nina Pauer mit der Perspektive der Personalentwicklung. Die Schnittmenge ist hierbei das Talent Management. Das Managen von Talenten bzw. von Talent ist aktuell ein überaus relevanter Diskurs im Personalmanagement. Und einer der wesentlichen Ströme dieses Diskurses ist der Umgang mit der Generation Y. Was brauchen die Talente dieser Generation für ihre Weiterentwicklung? Wie können sie zur vollen Entfaltung ihres Leistungspotenzials ermutigt werden? Diese beiden Kernfragen erzeugen Anschlussfähigkeit bei ‚Talentmanagern’, wenn sie bei der Gestaltung von Talent Management-Konzepten an die Annas in ihrem Unternehmen denken.
In einer ihrer Therapiesitzungen denkt Anna in sich hinein: „Eigentlich hat sie überhaupt keine Zeit für diesen Psychokram. Eigentlich hat sie gerade total viel zu tun. Sie denkt an die verpassten Anrufe, die ihr seit zehn Minuten lautlos in ihrer Tasche liegendes iPhone mittlerweile gesammelt haben dürfte. Sie hält diese Stille hier drinnen nicht aus.“
Am Beispiel der Anna wird von vorne bis hinten durchexerziert, was die leistungs- und entwicklungsgetriebenen Betroffene der Generation Y in Bezug auf ihren beruflichen und Karrierealltag beschäftigt. Es geht um den Drang, alle Aufgaben auf einmal bewältigen zu wollen und alle Ziele in einem Rutsch erreichen zu wollen. Dies bis zur Atemlosigkeit. Es geht ferner auch um die scheinbar verloren gegangene Kompetenz, ‚Nein’ sagen zu können oder zu wollen. Dabei scheint ein wesentlicher persönlicher Treiber die eigene Motivation zu sein, es anderen zu zeigen – den Vorgesetzten, den Kollegen, dem gesamten beruflichen Umfeld. An Leistungsorientierung scheint es hier nicht zu mangeln. Möglicherweise aber an Nachhaltigkeit in Bezug auf die eigenen Ressourcen. Es geht auch darum, stets in Chancen und Möglichkeiten zu denken. Der Personalentwickler mag hier die Überzeugung aussprechen, dass dies per se eine gute Eigenschaft ist. Jedoch beschreibt Nina Pauer, dass diese Eigenschaft fortlaufend durch Überstrapazierung unterwandert wird.
Der Zwiespalt, indem Anna steckt, wird deutlich herausgearbeitet: Anna scheint verhaftet zwischen der einerseits starken Erfolgs- und Leistungsorientierung und andererseits der Unmöglichkeit, den eigenen immer höheren Ambitionen gerecht zu werden und mit dem damit verbundenen Druck umzugehen. Einen Lösungsansatz beschreibt Autorin Nina Pauer im Interview mit USP-D Consultant Fabian Hoffmann: „Die übermotivierten Gen Y’s müssen auf den Boden der Tatsache zurückkehren und akzeptieren, dass es eben schlicht und ergreifend um Arbeit geht. (…) Die Menschen müssen lernen, dass sich negatives Feedback nur auf einen kleinen Schritt in einer Kette von Arbeitsprozessen und nicht auf die Ablehnung der ganzen Person bezieht. (…) Fehler sind erlaubt – es muss nicht immer alles perfekt sein. Eine gesunde Feedbackkultur ist dabei unerlässlich. (…) (…) Das Erlauben dürfen ist etwas ganz wichtiges. Spielräume. Einen Tag auch mal durchhängen.“
Bastian – die Generation Y zwischen Orientierungslosigkeit und Entscheidungsdruck
Und Bastian? Bastian ist anders als Anna. Weniger perfekt im Sinne der Perfektion von Anna, und mit einem offensichtlich differierenden Lebens- und Karrierekonzept. Nina Pauer schreibt etwa: „Wir sind nicht mit Bastian bei Facebook befreundet. Denn Bastian ist nicht bei Facebook. Er ist in Südamerika. Und dort hat er sein Handy aus. Oder kein Guthaben mehr. Bastian ist alles andere als perfekt.“ Aus einer Akademikerfamilie stammend, erscheint Bastian als ein smarter und etwas verträumter jemand eingeführt. Sehr stark entsteht der Eindruck, dass der Charakter ein Rollenmodell des erfahrungshungrigen jungen Menschen verkörpern möchte – jemand, der sehr stark in seinem Erleben im hier-und-jetzt verhaftet ist, nichts verpassen und nicht zu sehr in die Zukunft planen möchte. Dies sollte nicht zu leicht mit Orientierungslosigkeit oder gar Leistungsaversion verwechselt werden. Im Gegenteil, wenn er von einer Sache ‚Feuer fängt’, treibt ihn seine Begeisterungsfähigkeit an.
Dennoch scheint seine größte Herausforderung zu sein, sich zu entscheiden, Verbindlichkeiten einzugehen, von der Zukunft her zu denken und zu agieren und nicht zuletzt Verantwortung für die eigene Zielsetzung und Lebensplanung zu übernehmen. In der Kompensation dessen wird Bastian’s ganz eigener Perfektionismus sichtbar: Er nimmt sich Zeit, den perfekten Rahmen für seine Entscheidungen und sein Handeln zu kreieren. Offenbar bietet ihm dies einen Freifahrtschein zum Nicht-Entscheiden. Die Frage, die in der Geschichte um Bastian an Prominenz gewinnt, ist: Wie lange kann Bastian so weitermachen? Nicht zuletzt er selbst merkt zunehmend, dass die Aufrechterhaltung dieses Lebensstils mühevoller wird.
Gibt es einen Bastian im Unternehmen? Ja. Spannende und abwechslungsreiche Jobs können für einen Bastian durchaus attraktiv sein und ihn an ein Unternehmen binden. Für das Personalmanagement und die Unternehmensführung wird die Bindung von Mitarbeitern eine immer wichtigere strategische Herausforderung. Mit Blick auf die beiden Stereotypen Anna und Bastian könnte sich dies insbesondere auf letzteren beziehen. Die Frage nach der passenden Unterstützung eines Bastians könnte in Richtung Orientierung und Reifung zielen. Orientierung etwa im Sinne der Klärung von Vision, Zielen und beruflichen Perspektiven. Reifung darüber hinaus im Sinne von mehr Verantwortungsübernahme für die Gestaltung der eigenen Weiterentwicklung bzw. Lebens- und Karriereplanung.
Exkurs Karriereentwicklung
Ein kurzer Exkurs darf an dieser Stelle ausgeführt werden: Im Rahmen von Karriereentwicklung ist das Modell des ‚Karriereanker’ nach Edgar Schein eines der immer noch am weitesten verbreiteten Instrumente zur Karriereentwicklung. Einer der sogenannten ‚Karriereanker’ nennt sich ‚Lebensstilintegration’. Dieser beschreibt die individuelle Präferenz und Zufriedenheit im Job über die Integration der verschiedenen Lebensbereiche zu erlangen. Work/Life-Balance ist den Menschen, deren Karriereanker-Profil hohe Werte bei ‚Lebensstilintegration’ zeigen, sehr wichtig. In den letzten 10 Jahren ist dieser Anker zu einem der dominantesten Präferenzen geworden. Und auch darauf nimmt Nina Pauer indirekt Bezug, wenn sie Anna in ihrem Bestreben beschreibt, eine Vielzahl an beruflichen und privaten Terminen und Verbindlichkeiten unter einen Hut zu bekommen. Ein Bestreben, welches Anna regelmäßig an ihre Grenzen zu bringen scheint.
Wie kann vor diesem Hintergrund eine Lösung aussehen, die einer Anna helfen kann? Folgt man den Gedanken eines Edgar Schein’s, so ist die erfolgreiche Integration von Karriere, familiären und privaten Interessen an den Umgang mit anderen dominanten Präferenzen gebunden. Hinsichtlich der anderen Karriereanker lässt sich vermuten, dass der Anker ‚Totale Herausforderung’ der zweite dominante Anker ist. Die Motivation, es sich immer wieder selbst zu beweisen und sich immer höhere Ziele zusetzen führt zu einem ständigen Wettbewerb mit anderen und nicht zuletzt mit einem selbst. Fokussierung scheint hierbei ein möglicher Lösungsansatz für die Karriereentwicklung einer Anna zu sein. Ihr könnte es beispielsweise helfen, sich in den verschiedenen Lebensbereichen auf die für sie wichtigsten Herausforderungen zu fokussieren und diese erfolgreich zu meistern.
Im Fall von Bastian könnte der zweite dominante Anker ‚Selbstständigkeit/Unabhängigkeit’. Für Bastian scheint es sehr wichtig zu sein, Freiheit zu suchen und selbständig schalten und walten zu können. Des Weiteren scheint es ihm wichtig zu sein, die Dinge nach eigenem Ermessen zu tun und auf Basis eigener Standards. Wie oben bereits vorgeschlagen, könnte mehr Orientierung und Reifung Bastian helfen, seinem Streben nach Unabhängigkeit ein stabileres und zukunftsfähigeres Grundgerüst zu geben.
Fazit
Was kann abschließend die Praxis der Personalentwicklung und des Talent Managements aus diesem Buch lernen? Sicherlich eine größere Achtsamkeit für die Ängste, Hoffnungen, Antreiber und Motivatoren ihrer Talente und High Potentials, die Attribute und Verhaltensweisen mit der Figur der Anna teilen.
Das Buch eignet sich dabei als eine Momentaufnahme – den Status Quo – einer neuen Generation und darf Personalentwicklern und Talentmanagern empfohlen werden. Als solches bietet es einen Referenzrahmen, vor dem etwa die Entwicklungsbedarfe und Karriereambitionen von Mitarbeitern reflektiert werden können, die der Generation Y entstammen. Mit etwas Vorsicht sollte dabei der Umgang mit den beiden Stereotypen Anna und Bastian sein: Nina Pauer nutzt diesen, um zwei grundsätzliche Orientierungspole der Generation zu beschreiben, um die sich der Einzelne mehr oder weniger klar positionieren kann. Im Umkehrschluss führt diese Erkenntnis dazu, die Reflexions- und Entwicklungsunterstützung immer individuell zu gestalten. Ein Ansatz, der in gewissem Sinne der ,Individualisierung als personalpolitische Herausforderung’ entspricht.
Vor diesem Hintergrund hat USP-D Consultant Fabian Hoffmann im August 2012 ein Interview mit der Autorin Nina Pauer geführt. Das Interview zielte darauf ab, mögliche Ansatzpunkte für die Praxis des Talent Managements auf Basis des Buchs als Referenzrahmen zu diskutieren. Das vollständige Interview mit der Autorin Nina Pauer ist online verfügbar unter www.usp-d.com.
Autor: Fabian Hoffmann