Die Zukunft gehört der personalisierten Medizin. Das bessere Verständnis
genetischer und umweltbezogener Einflüsse auf unsere Gesundheit und vor allem
neue Erkenntnisse über die Wechselwirkungen zwischen diesen Faktoren bewirken
einen Paradigmenwechsel in der medizinischen Forschung, der in den kommenden
Jahren zunehmend konkrete Auswirkungen auf den Alltag der Gesundheitsversorgung
haben wird, berichteten europäische und internationale Experten/-innen beim
European Health Forum Gastein. Es wird immer besser möglich, Untersuchungen und
Therapien persönlich an den einzelnen Menschen anzupassen.
Bad Hofgastein, 3. Oktober 2012 – „Obwohl die Ausgaben für
medizinische Forschung in den vergangenen 30 Jahren gestiegen sind, bleiben bei
allen Fortschritten wirkliche Durchbrüche bei verbreiteten Erkrankungen wie
Krebs, Typ-2-Diabetes oder Adipositas immer noch bescheiden. Doch das Potenzial
ist immens”, sagte Prof. Dr. Angela Brand, Institute for Public Health Genomics
(IPHG) an der Universität Maastricht und Direktorin des European Centre for
Public Health Genomics (ECPHG) heute auf dem Europäischen Health Forum Gastein
(EHFG). „Ein Grund dafür ist, dass wir bisher die zelluläre, molekulare und
genetische Einzigartigkeit der individuellen Patienten/-innen im Wechselspiel
mit Umweltfaktoren noch nicht ausreichend einbeziehen können. Doch hier stehen
wirklich dramatische Fortschritte unmittelbar bevor.“
Einen ersten, aber wichtigen Schritt in Richtung personalisierter Medizin
stellt die stratifizierte Medizin dar, die in vielen Fällen heute schon
Anwendung findet. „Stratifizierung bedeutet beispielsweise, dass man Gruppen von
Patienten definiert, die von einer bestimmten Therapie besonders gut
profitieren“, erklärte Prof. Brand. „So lässt sich mittlerweile schon bei vielen
Krebserkrankungen aufgrund bestimmter genetischer Eigenschaften des Tumors sehr
präzise vorhersagen, ob der oder die betroffene Patient/-in beispielsweise von
einer Chemotherapie einen Vorteil haben wird oder nicht. Das ist angesichts der
bekannten Belastungen durch Chemotherapie ein ganz beträchtlicher Fortschritt.“
Eine weitere Option bestünde darin, aufgrund genetischer Profile die
Nebenwirkungen von Medikamenten vorherzusagen. Man kann damit also
Personengruppen definieren, die eine bestimmte Substanz besser oder schlechter
vertragen werden. „Diese Möglichkeiten stehen heute vielfach schon zur
Verfügung“, so Prof. Brand, „werden jedoch in der Praxis zu wenig
eingesetzt.“
Individuelle Behandlungsstrategien auf dem Weg in den
Behandlungsalltag
Echte personalisierte Medizin geht jedoch noch einen Schritt weiter. Prof.
Brand: „Wir gehen in die Richtung, jedes Individuum, jeden einzelnen Menschen
mit einer personalisierten Therapie behandeln zu können. Das bedeutet zum
Beispiel, dass man aus einem Tumor Stammzellen entnehmen und das Immunsystem
des/der Patienten/-in mit Hilfe von Impfungen gegen diese Zellen aktivieren
könnte. Da behandelt man dann einen bestimmten, individuellen Menschen gegen
einen bestimmten, speziellen Tumor. Das ist der Unterschied zwischen
stratifiziert und individualisiert. Diese Ansätze befinden sich im Moment aber
noch im experimentellen Stadium.“ Weiter ist man mit mathematischen
Modellierungen, die das Verhalten eines Tumors in einem Individuum simulieren
und daraus Empfehlungen für die Therapie ableiten. Solche Strategien, die das
Max Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin anwendet, stehen kurz vor
dem Schritt in die klinische Praxis. Allerdings sei es, so Prof. Brand,
erstaunlich schwierig, dafür Verständnis in der Ärzteschaft zu finden.
Prof. Brand ist überzeugt, dass Europa den globalen Weg in diese Richtung
weisen könne: „Mit einer Vielzahl von Initiativen seitens der Europäischen
Kommission und der EMA wird die Entwicklung in Richtung personalisierter Medizin
vorangetrieben.“ Dazu gehören etwa die European Alliance for Personalised
Medicine, die European Science Foundation oder das Public Health Genomics
European Network, das Europäische Guidelines entwickelt hat, die die schnellere
praktische Umsetzung personalisierter Medizin in die Gesundheitssysteme
vorantreiben sollen.
Innovative Forschungsstrategien
Bedarf an innovativen Ansätzen im klinischen Alltag besteht reichlich. „Die
Tatsache, dass immer mehr Menschen immer älter werden, bedingt zwangsläufig das
gesteigerte Auftreten zahlreicher Erkrankungen und damit auch steigende
Gesundheitskosten. Das bedeutet, dass die Gesundheitssysteme in der EU unter
Druck geraten werden“, sagte beim EHFG Prof. Dr. Kurt Zatloukal (Institut für
Pathologie, Medizinische Universität Graz). Um diesen Herausforderungen begegnen
zu können, bedürfe es innovativer Strategien in Prävention und Therapie, die
wiederum nur das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung in internationaler und
interdisziplinärer Zusammenarbeit sein können.
Persönliche Datenbanken schaffen Basis
Eine wichtige Rolle spielen dabei Biobanken, also Sammlungen menschlicher
Blut- oder Gewebeproben, die mit möglichst detaillierten Informationen über den
Lebensstil und die Erkrankungen der Personen, von denen die Proben stammen,
vernetzt sein sollten. Prof. Zatloukal: „In Kombination mit den neuesten
Technologien in Analytik und Daten-Management bilden diese Biobanken die Basis
für ein vertieftes Verständnis der genetischen und nicht-genetischen Ursachen
von Krankheiten und Faktoren, die ihren Verlauf beeinflussen. Damit sind sie die
Voraussetzung für die weitere Entwicklung der personalisierten Medizin.“
In Europa wird diese Entwicklung durch zwei Initiativen vorangetrieben. Die
gesamteuropäische Biobanking and Biomolecular Resources Research Infrastructure
(BBMRI) soll den Zugang zu Proben von menschlichem Blut, Gewebe, Zellen oder DNA
sowie den zugehörigen Daten sicherstellen. Um dieses Material auch auf
innovativem Weg verarbeiten zu können, werden im Rahmen des
EU-Flaggschiff-Pilotprojekts IT Zukunft der Medizin (IT Future of Medicine –
ITFoM) Konzepte entwickelt, wie mit dieser ungeheuren Fülle an Daten umgegangen
werden soll. „Am Ende dieser Entwicklung sollen Computer-Modelle stehen, die es
Ärzten ermöglichen, Erkrankungen und Therapien im individuellen Menschen zu
simulieren und zu verstehen und damit ihre therapeutischen Empfehlungen
zielgerichteter zu planen“, so Prof. Zatloukal. „Solche Computer-Modelle haben
aber darüber hinaus auch weiteres Potenzial. Zumindest zum Teil könnten sie in
der Wirkstoff-Erforschung Tierversuche ersetzen, und das Design klinischer
Studien verändern, was die Kosten der Entwicklung neuer Medikamente deutlich
reduzieren könnte.“
Das EHFG ist der wichtigste gesundheitspolitische Kongress der Europäischen
Union, mehr als 600 Entscheidungsträger aus 45 Ländern diskutieren vom 3. bis 6.
Oktober 2012 bereits zum 15. Mal zentrale Zukunftsthemen der europäischen
Gesundheitssysteme.
Fotos zum diesjährigen European Health Forum Gastein
finden Sie unter http://www.ehfg.org/940.html.
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