Viel ist dieser Tage die Rede vom desolaten Zustand und dem riesigen Schuldenberg an der Peripherie Europas und dem richtigen Weg aus der Krise. Aber jede Medaille hat zwei Seiten. Wo es Verlierer gibt, da gibt es auch Gewinner. Bisher galt Deutschland als ein Gewinner der Krise. Merkwürdig ist, dass in letzter Zeit immer mehr Zweifel daran gesät wurden. Dabei ist in Deutschland von Krise keine Spur.
Um das zu verstehen, muss man etwas zurückschauen, in die frühen 90er Jahre. Wer weiß heute noch, warum die Zinsen so lange so niedrig gehalten wurden und so den Boden für den Wohlfahrtsstaat und die Immobilienblase bereiteten, die Europas Peripherie heute an den Rand der Zahlungsunfähigkeit bringen? Richtig, die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland war es, die ganze zwei Billionen US-Dollar verschlungen hat. Ein gigantisches Projekt mit einer gepfefferten Rechnung. Letztlich aber hat es den heute in Deutschland anzutreffenden Wohlstand erst möglich gemacht. Und ohne das Wirtschaftswachstum im restlichen Europa wäre die Bilanz möglicherweise nicht ganz so günstig ausgefallen.
Unter dem Strich – aus Sicht der deutschen Wirtschaft
Aus verschiedenen Gründen hat Deutschland auch von den Ereignissen der letzten vier Jahre wesentlich stärker profitiert als andere Länder der Eurozone. Durch sein von der Bundesbank unterstütztes Bankensystem, den schwachen Euro und die niedrigen Zinsen.
Um es gleich vorwegzunehmen: Das deutsche Bankensystem ist weit davon entfernt, Vorbild für andere Länder zu sein. In der Vergangenheit haben die staatlichen Kreditinstitute in Deutschland bei vielen leichtfertigen Kreditgeschäften eine unrühmliche Rolle gespielt. Eines der ersten Opfer der Subprime-Krise war die IKB, die im August 2007 mit Staatsgeldern vor der Pleite bewahrt werden musste. Viele deutsche Geschäftsbanken wiederum, von einer Ausnahme abgesehen, erlitten Schiffbruch beim Versuch, im Ausland Fuß zu fassen – zu Lasten ihrer Aktionäre, die die Zeche zahlen mussten. Einige dieser Banken gibt es heute schon gar nicht mehr. Und der Rest hat mit den Cajas, also den spanischen Sparkassen, weit mehr gemein als viele denken. Eines aber muss man ihnen lassen: Schneller als viele ihrer Wettbewerber haben sie sich aus den Banken- und Staatsanleihemärkten an den Rändern Europas zurückgezogen, als es dort zu kriseln begann.
Als Folge dieser Entwicklung haben sich die Banken inzwischen wieder innerhalb ihrer nationalen Grenzen zurückgezogen: spanische Banken halten spanische, italienische Banken italienische Staatsanleihen. Praktisch für deutsche Kredithäuser, die sich geschickt aus ihren Direktengagements verabschiedet haben. Durch die Hintertür könnte es nun aber die Bundesbank erwischen. Target 2 heißt das Schreckgespenst und steht für die Forderungen der Bundesbank gegen andere europäische Zentralbanken, die sich unterdessen auf weit über 600 Milliarden Euro belaufen. Selbst für ein reiches Land wie Deutschland wird das zu einem Problem, sollte der Euro scheitern. De facto hat also die Bundesbank – wissentlich oder in Unkenntnis – das Bankensystem Deutschlands vor dem Zusammenbruch gerettet. Geht das schief, muss der deutsche Steuerzahler die Rechnung begleichen. Ob der jedoch begreift, dass man derzeit Poker mit seinen Steuergeldern spielt, darf bezweifelt werden.
Und dann wäre da noch der schwache Euro. Ein wahrer Segen für den Export, da europäische Waren in US-Dollar gerechnet immer günstiger werden. Als Folge des schwindenden Vertrauens in das europäische Finanzsystem, die Handlungsfähigkeit der Politik und den Zusammenhalt in der EU ist der Euro eine Währung, die auf wackeligen Füßen steht. Als größter Exporteur im Euroraum ist Deutschland selbstredend auch der größte Nutznießer der schwächelnden Gemeinschaftswährung.
Niedrige Zinsen wiederum helfen Unternehmen und Verbrauchern – nicht nur den deutschen. Solide Firmen aus allen europäischen Ländern kommen derzeit in den Genuss günstiger Finanzierungen. Was auch für jene Verbraucher gilt, die ihren Kreditrahmen noch nicht überzogen haben. Aber in Verbindung mit den oben beschriebenen Entwicklungen, die sich am deutlichsten in den Lohnerhöhungen und der niedrigen Arbeitslosigkeit manifestieren, über die sich Arbeitnehmer derzeit in Deutschland freuen können, wird klar, dass auch hier die Deutschen den größten Vorteil für sich verbuchen können. Nimmt man dann noch die niedrige und kaum schwankende Inflation hinzu, liegt auf der Hand, warum die Deutschen selbst von der Krise kaum etwas spüren. Vielleicht erklärt das auch, warum sie bei den Sparmaßnahmen, die andere treffen, so unerbittlich sind.
Zurzeit erleben wir eine von Angst getriebene Flucht in Bundesanleihen, mit der die nominalen Renditen von Schuldtiteln mit zwei Jahren Laufzeit kurzzeitig sogar unter die Null-Prozent-Marke rutschten. Jemand anderem Geld leihen und ihn dafür auch noch bezahlen: Eine verkehrte Welt und der beste Beweis dafür, wie verängstigt manche Anleger sind. Kapitalrückzahlung geht derzeit offenbar vor Kapitalverzinsung.
Kaum fassen kann sicher der Bundesfinanzminister sein Glück, der für Aufstockungen und Neukredite momentan Abnehmer trotz absurd niedriger Zinsen findet. Dass dieser Balsam für die deutsche Staatskasse für andere staatliche Kreditnehmer alles andere als heilsam ist, schmälert dessen positive Wirkung für Deutschland nicht.
Aber trotzdem befindet sich Deutschland trotz allem in einer schwierigen Situation. Denn die von mir beschriebenen wirtschaftlichen Vorteile sind das eine – die öffentliche Wahrnehmung aber ist eine ganz andere Sache. Ein Land, das aus historischen Gründen zurückhaltend ist, die Führungsrolle zu fordern, wird nun gezwungen all das zu verteidigen, wofür Generationen von Politikern hart gekämpft haben. Und wer will schon als jemand dastehen, der die Verschwendungssucht seiner Nachbarn belohnt? Vor allem dann, wenn diese scheinbar selbst wenig tun, um sich aus ihrem Dilemma zu befreien. Gelegentlich aber muss man Prinzipien aufgeben zu Gunsten eines größeren und wichtigeren Ziels. Die Realität ist das, was bleibt, wenn man die Augen schließt. Und dieser Realität muss man sich hier und jetzt stellen, nicht einer romantischen Vorstellung davon, wie Völker in einer perfekten Welt miteinander leben.
Im schlimmsten Fall gelingt es nicht rechtzeitig, das Ungleichgewicht in Europa zu beseitigen. Die Folgen wären ein Zusammenbruch der Währungsunion, die Rückkehr zur starken D-Mark, uneinbringliche Target2-Forderungen und die Erschütterung des deutschen Wohlstands in seinen
Grundfesten. Wer aber kauft dann die teuren BMWs? Ein solches Schreckensszenario ist zwar unwahrscheinlich. Mitunter aber muss man zu extremen Beispielen greifen, um Zusammenhänge zu verdeutlichen.
Wie aber gelangen die Deutschen an den Punkt, an dem sie bereit sind, eine höhere Inflation, höhere Anleihezinsen, eine stärkere Führungsrolle und eine EZB zu akzeptieren, die eine deutlich gemäßigtere Position vertritt als die Bundesbank? Das geht nur langsam, Schritt für Schritt, während man gleichzeitig versucht, die Haushaltsdisziplin zu wahren und die Kosten einer Lösung gegen die eines Zusammenbruchs abzuwägen.
Hier geht es nicht nur um Deutschland. Auch Frankreich ist einer der Nutznießer der Krise, wenn auch in kleinerem Rahmen. Es ist an der Zeit, wieder für etwas mehr Ausgewogenheit in einer Debatte zu sorgen, die in letzter Zeit doch gefährlich einseitig war. Die Fakten liegen auf der Hand. Sie zu ignorieren ist wenig hilfreich, wenn es darum geht, Maßnahmen zu formulieren, mit denen das europäische Bankensystem stabilisiert und die Mehrheit der Volkswirtschaften wieder auf den Wachstumspfad zurückgeführt werden kann. Der beste Weg aus einer Schuldenkrise führt über Wachstum. Aber nicht nur in einem oder zwei Ländern, sondern überall in Europa.
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