Der Begriff der Krise ist nunmehr in aller Munde: Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Bankenkrise, Eurokrise bis hin zur politischen Krise, von welcher in Österreich aufgrund der Erkenntnisse aus den parlamentarischen Korruptionsuntersuchungsausschüssen gesprochen wird.
Aus diesem Grund seien die Thesen zweier philosophischer Denker angerissen, welche sich in weitsichtiger Weise schon vor Jahrzehnten mit dem Begriff der Krise bzw. krisenhaften Entwicklungen in der Gesellschaft befassten: Jene des deutschen Philosophen Karl Ulmer (1915-1981), welcher sowohl in Tübingen als auch in Wien lehrte und jene von Richard Sennett (geb. 1943), amerikanischer Soziologe, Kulturkritiker und Bestsellerautor.
Karl Ulmer: Verlust des Wissens – Paradoxon der modernen Lebenswelt
Karl Ulmer vertritt in seinem Werk „Philosophie der modernen Lebenswelt“ (Tübingen 1972) die These, dass die moderne Lebenswelt durch einen grundlegenden Widerspruch gekennzeichnet ist: Der rasante Anstieg an neuen Erkenntnissen im naturwissenschaftlich-technischen Bereich ist sowohl mit einer fortlaufenden Spezialisierung in den Wissenschaften verbunden als auch mit einer immer tiefer gehenden Ausgliederung und Aufteilung aller menschlichen Lebensbereiche. Dies wird auch durch die Tendenz zu einer immer weiter gehenden Spezialisierung in den Berufen deutlich. Verlieren die Wissenschaften jedoch den Blick für ihre Ordnung und ihren Zusammenhang, dann geht die Einheit menschlichen Wissens verloren, es kommt insgesamt zu einem Verlust an Wissen.
Der undurchsichtige Zusammenhang unserer modernen Lebenswelt ist nach Ulmer ein „merkwürdiger und beunruhigender“ Vorgang. Er schreibt: „Denn wenn uns das Wissen vom Ganzen unserer Lebensverhältnisse verlorengeht, dann lösen sich uns Ordnung und Maß im Zusammenhang der Lebensverhältnisse immer mehr auf, so dass diese nur noch äußerlich zusammengehalten wie eine beliebige und zufällige Ansammlung erscheinen, in der alle Unterschiede der Bedeutung eingeebnet sind. Dann geraten wir in einen Zustand, in dem wir uns der verwirrenden Vielfalt der Verhältnisse hilflos ausgeliefert sehen und besinnungslos darin forttreiben, ohne zu wissen, wohin wir von ihnen geführt werden, und ob wir dabei noch auf einem guten Weg sind.“
Nach Ulmer braucht menschliches Leben jedoch Fixpunkte; wenn diese zu erodieren beginnen, kommt es zur Krise. Die Krise ist ein Übergang zu neuen Festlegungen – dies ist ihre Definition. In der Krise ist der Mensch gefährdet: Das Gefahrenmoment besteht im Übergang: Der Mensch hat sich von herkömmlichen Verhältnissen gelöst, aber in neuen noch nicht Fuß gefasst. Die alte Ordnung beginnt sich aufzulösen, aber eine neue ist noch nicht etabliert.
Richard Sennett: „Flexibilität“ der Kurzfristigkeit ist kein Allheilmittel
Sennett kritisiert in seinen Werken „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ (Frankfurt/Main 1986), „Der flexible Mensch“ (Berlin 1998) sowie „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ (Berlin 2005) gesellschaftliche Entwicklungen wie Vereinzelung, Orientierungslosigkeit und Ohnmacht des modernen Menschen ebenso wie die Oberflächlichkeit und Instabilität zwischenmenschlicher Beziehungen.
Auch Sennett konstatiert einen tiefen Widerspruch der modernen Lebenswelt: Während die Wirtschaft im Zeitalter der Globalisierung zunehmend von Kurzfristigkeit bestimmt wird und daher den „flexiblen“ Menschen fordert, welcher je nach Bedarf Arbeitsformen, Arbeitsstellen und Wohnorte wechselt, widerspricht dies dem Wesen des Menschen, welcher auch der Langfristigkeit, Verlässlichkeit und kontinuierlichen Entwicklung bedarf.
Sennetts zentrale These lautet, dass die totale Flexibilisierung der Arbeitswelt für diese gefährlich werden kann: Werte wie Loyalität und Verantwortungsbewusstsein verlieren ebenso an Bedeutung wie die Fähigkeit auf sofortige Befriedigung von Bedürfnissen zugunsten langfristiger Ziele zu verzichten.
Eine Arbeitswelt, welche die „Stärke schwacher sozialer Bindungen“ und „flüchtige Formen“ von Gemeinschaft fördert, produziert eine „flexible“ Gesellschaft, welche vor folgenden Problemen steht: „Wie lassen sich langfristige Ziele in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft anstreben? Wie sind dauerhafte soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten? Wie kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln?“
Sennett übt auch Kritik an den Bildungssystemen der Industriestaaten, welche eine Überproduktion an Hochqualifizierten schaffen, was zum Problem von un- und unterbeschäftigten Menschen führt, welche mit der katastrophalen Situation der Nutzlosigkeit konfrontiert sind.
Fazit: Scheidung von Feuer und Asche
Es ist eine Tatsache, dass der Mensch ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert wird, welche mit herkömmlichen Grundvorstellungen nicht mehr zu bewältigen sind und daher auch neuer Lösungsansätze bedürfen. Dies bedeutet, dass Krise auch als etwas Positives angesehen werden kann: Als Herausforderung zu Neuem, zu Kreativität, aber auch Flexibilität.
Der Begriff der Flexibilität entstammt der Naturbeobachtung: Er wurde aus der Erfahrung gewonnen, dass Bäume zwar vom Wind gebogen werden können, aber danach meist wieder ihre ursprüngliche Gestalt annehmen. Natürlich kann ein Sturm Bäume auch deformieren oder vollkommen entwurzeln, dann sind sie vernichtet und es gibt auch keine Flexibilität mehr. In der Natur sind davon meist „Flachwurzler“ betroffen.
Flexibilität wird nicht zu Unrecht als Gegensatz zu Erstarrung und Leblosigkeit oder sogar als Synonym für Freiheit begriffen. Freiheit ist jedoch der Gegensatz zu Zwang und Gewalt. Wird „Flexibilität“ erzwungen, kann es zu Verbiegungen, Deformierungen und im Extremfall zu Zerstörungen kommen; Kreativität und Spontaneität neuer Lösungen und Ideen gehen verloren.
Ein alter Vergleich besagt, dass jede Generation die Aufgabe habe, das Feuer von den Altären der Väter weiter zu tragen und die Asche zu hinterlassen. Die entscheidende Frage in einer Krise könnte sein: Was ist aufgrund der Veränderung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse als überholt der Asche zuzurechnen und was stellt einen so bleibenden Wert dar, dass es als Feuer weitergetragen werden sollte?
Über Dr. Brigitte Sob: Promotion sub auspiciis praesidentis rei publicae zum Doktor der Philosophie an der Univ. WIEN; Dissertation über die Ethik Kants
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