(Berlin) Erstarkter Industrieanteil und rückläufiger Dienstleistungsanteil begründen die starke wirtschaftliche Stellung Deutschlands in der Welt.
Bald 100 Jahre lang wurde der Strukturwandel von einer Industriegesellschaft hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft als Zeichen vorschreitender gesellschaftlicher Entwicklung angesehen. Spätestens seit der Finanzkrise ist dies anders.
Eine immer innovativer werdende Industrie, das heißt die materielle Produktion, bis heute vielfach angesehen als der Teil der Wirtschaft, der allein echte Werte schafft, zieht immer umfassendere Dienstleistungen nach sich wie Logistik, Montage, Wartung und Weiterentwicklung. Je stärker die Industrie und die damit einhergehenden Dienstleistungen Wohlstand mehren, desto stärker nimmt auch die Nachfrage nach Dienstleistungen zu, vor allem in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Finanzberatung, Tourismus und Unterhaltung. Je wohlhabender die Menschen werden, desto mehr werden diese Dienstleistungen anteilmäßig nachgefragt. Soweit die Schulbuchtheorie.
In der Realität ist es tatsächlich so, dass Großbritannien, Ursprungsland der industriellen Revolution, Mitte der 1990er Jahre einen Industrieanteil von 21 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) hatte, heute sind es noch ca. 13 Prozent. In Frankreich reduzierte sich der Anteil der materiellen Produktion an der Gesamtwirtschaft von 18 auf ca. 12 Prozent. Beide Länder, Großbritannien und Frankreich, stehen wirtschaftlich aktuell zumindest nicht so gut da. In den USA beläuft sich der Industrieanteil sogar nur noch auf ca. 11 Prozent.
In Deutschland ist eine gegenläufige Entwicklung zu konstatieren. Der Anteil der materiellen Produktion an der Gesamtwirtschaft beträgt hier tatsächlich 26 Prozent, doppelt so viel in Großbritannien oder Frankreich. Die deutsche Volkswirtschaft bildet damit eine Ausnahme unter den Industrieländern. Der Finanzsektor-Anteil von ca. 5 Prozent am BIP ist in Deutschland ebenfalls kleiner als in Großbritannien oder den USA.
Dieser gegenläufige, hohe Anteil der Industrie an der deutschen Gesamtwirtschaft – insbesondere Autos, Maschinen, Chemie und Elektrik sind hier die „Stars“ – wird unter Ökonomen mittlerweile als Hauptgrund dafür gesehen, dass Deutschland mit Abstand am besten in der Europäischen Union und mit am besten in der ganzen Welt seit der Finanzkrise wirtschaftlich besteht. Mehr noch: insbesondere in den USA nehmen die Kritiken zu, der Strukturwandel von der Industriegesellschaft hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft sei hier zu weit gegangen. So seien z. B. viele neue Servicejobs entstanden, die eine geringe Arbeitsproduktivität aufwiesen und mit einem geringen Verdienst einhergingen, Beispiel Einzelhandel. Der Verlust hochproduktiver Industriearbeitsplätze mit einhergehendem steigendem Billigservice verlangsame das Produktivitätswachstum und führe vor allem zu wachsender Einkommensungleichheit und berge damit sozialen Sprengstoff.
In China liegt der Industrieanteil bei ca. 45 Prozent. Nunmehr wenden sich die Chinesen auch Medium- und sogar High-Tech-Produkten zu. Indien ist geprägt u.a. durch Call-Center und Software-Entwicklung, das heißt von einer Dienstleistungsgesellschaft. Die Wirtschaft Chinas wächst bedeutend stärker als die Indiens. Auch dies wird heute als vergleichendes Beispiel dafür angeführt, dass die materielle Produktion allein Werte schaffe und tatsächlicher Träger wirtschaftlicher Stabilität und wirtschaftlichen Wachstums sei.
In Deutschland wird die wirtschaftliche Stabilität noch mit begründet mit der internationalen Besonderheit der innovationsstarken Mittelständler, die sich in vielen Nischenbereichen als Marktführer entwickelt haben.
Der Autor dieses hier vorliegenden Beitrags möchte relativierend einwenden, dass die USA mit einem Industrieanteil von nur noch ca. 11 Prozent und einem überwältigenden Dienstleistungsanteil an der Gesamtwirtschaft bis heute dennoch die mit Abstand größte Volkswirtschaft und eine der innovativsten Volkswirtschaften der Erde ist.
Die Tendenz der aktuellen Kritiken, die Entwicklung einer Dienstleistungsgesellschaft sei zu weit gegangen auf Kosten der materiellen Produktion, erscheint angesichts der wirtschaftlichen Verwerfungen in der europäischen Union und der Welt dennoch gerechtfertigt. Wirtschaftliche Stabilität, Wirtschaftswachstum und der Anteil der Industrie an einer Gesamtvolkswirtschaft erscheinen augenfällig, siehe die Beispiele Deutschland und China. Dieser Zusammenhand erscheint auch unmittelbar einleuchtend: Der Mensch muss sein Brot essen können. Internet zum Beispiel kann man nicht essen.
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Harald Bahner
Master of Business Consulting (M.BC. – FIBAA-akkreditiert)
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